Skandal um Lady Amelie
Elyot erlaubte sich ein amüsiertes Schnauben, eher wegen des „Tante“ als wegen einer eventuellen Krise. „Nein, sie wird sich vielleicht in den Schlaf weinen, aber niemals zugeben, dass sie nicht mehr den Ton angibt.“
„Wozu soll ich mir überhaupt die Mühe machen? Ich habe sie mir ja nicht mal selbst ausgesucht.“
„Amüsier dich ein wenig mit ihr, es ist doch nur für kurze Zeit.“
„Wie?“, fragte Seton verdutzt. „Soll ich sie etwa verführen?“
„Himmel, nein, du Dummkopf! Doch das nicht! Bieg sie dir einfach nur ein bisschen zurecht.“
Seton brummte nur abfällig.
Amelie merkte bald, dass der nachmittägliche Ausritt, den Lord Elyot ihr angekündigt hatte, die kleine Schar den steinigen Weg hinaufführte, den sie selbst neulich im Finsteren bei strömendem Regen auf ihrem Esel zurückgelegt hatte. Bei Tageslicht bot sich dort ein überraschend herrlicher Ausblick über den Fluss, den Ort Richmond und den dahinter sich erstreckenden königlichen Park. Die größte Überraschung jedoch war für Amelie das Arbeitshaus selbst, das sie sich natürlich nicht anders vorstellte als all die anderen, die sie bisher gesehen hatte – streng, unfreundlich, mit hohen Mauern und vergitterten Fenstern, von düsterem Schweigen erfüllt, abstoßend, ein letzter, schrecklicher Ausweg.
Doch die einzige Übereinstimmung lag in der Größe der Einrichtung. In jeder anderen Hinsicht war das Arbeitshaus von Richmond revolutionär. Es hatte saubere, ordentliche Unterkünfte und bot nützliche Beschäftigungen und sogar Unterricht, genügend Nahrung und gute Versorgung. Einzig die familiären Bindungen fehlten, die jedoch viele der Insassen sowieso nie gekannt hatten. Amelie und Caterina erfuhren, dass es sogar eine Kranken-und Entbindungsstation gab. Lord Elyot ahnte, dass sie dort am längsten verweilen würden.
Während die Herren die diversen Werkstätten besuchten, wurden die beiden Damen von einer freundlichen weiß beschürzten Vorsteherin in einen hellen, sauberen Schlafraum geführt, in dem es nach Säuglingen und Seife und Holzrauch von der Feuerstelle duftete. Entlang der Wände standen, durch Vorhänge voneinander getrennt, schmale Betten und Wiegen, und Mutter und Kind, die somit sogar eine Art Privatsphäre genossen, wurden derart hervorragend versorgt, wie Amelie es in einer solchen Einrichtung, die üblicherweise nicht auf den Komfort der Insassen bedacht war, für unmöglich gehalten hätte.
Sie besuchten jede einzelne junge Mutter, und Amelie erwartete jeden Augenblick, der gegenüberzustehen, die sie hatte retten wollen. Als sie endlich das letzte warme, hilflose, nach Milch duftende Bündel an ihr Herz gedrückt und sein flaumiges Köpfchen gekost hatte, rannen die Tränen, gegen die sie so lange angekämpft hatte, in Strömen über ihre Wangen, und die Mütter, die sie, von Mitgefühl geleitet, aufgesucht hatte, bemitleideten nun sie.
Sanft nahm eine junge Mutter ihr zuletzt das Baby aus den Armen und legte es an die Brust. „Wie heißt es?“, fragte Amelie, immer noch weinend.
„Es hat noch keinen Namen, M’lady. Wie heißen Sie?“
„Amelie.“
„Dann will ich sie so nennen. Emily. Ja, Emily.“
„Danke. Was für ein hübsches Kleidchen sie trägt!“
Die Vorsteherin erklärte: „Lady Sheen und ihre Tochter leiten einen Handarbeitszirkel, der uns mit Kinderkleidung versorgt. Erst vor zwei Tagen wieder brachten die beiden jungen Lords uns ein großes Paket. Die Familie des Marquis sorgt sehr gut für das Heim. Gott segne sie.“ Sie öffnete die Tür und ließ die Besucherinnen vorangehen. „Sie müssen wissen, Mylady, die Armen kommen von überall hierher, weil sich herumgesprochen hat, wie es hier zugeht, und nicht ein Monat vergeht, ohne dass Lord Elyot uns besucht, und niemals mit leeren Händen.“
Die volle Bedeutung dieser Erklärung erfasste Amelie in diesem Augenblick der Verwirrung nicht, erinnerte sich aber später, dass sie das vage Gefühl gehabt hatte, irgendwo bestünde da ein Widerspruch. Draußen vor der Tür umarmte Caterina ihre Tante und drückte sie an sich, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte, während Lord Elyot taktvoll ein wenig abseits abwartete und sein Gespräch mit dem Verwalter der Einrichtung hinauszog. Trotz Caterinas Tröstungen und eines beruhigenden Trankes, den die Vorsteherin ihr reichte, konnte Amelie nicht verbergen, wie nah ihr dieser Besuch gegangen war.
Der Rückweg verlief sehr schweigsam. Da Lord Seton Rayne sich Caterina
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