Skandalöse Küsse - Scandal Becomes Her
nicht genauer untersuchte.
Ein Geräusch - ein Schnarchen, ein Husten - verriet ihr, dass sie nicht allein war. Mit wild klopfendem Herzen erhob sie sich unsicher. Ihr Blick fiel auf die Stiefel und den Reitmantel, eine Sekunde, ehe sie den dunklen Schopf des Mannes entdeckte, der auf einem Stuhl vor dem ersterbenden Feuer im Kamin schlief.
Sie keuchte und schrak zurück, Entsetzen erfasste sie. Tynedale war schlimm genug, aber auf Gedeih oder Verderb einem Fremden ausgeliefert zu sein, am Ende einem Dieb, Mörder oder Straßenräuber, war noch viel schlimmer. Wenigstens machte ihr Tynedale keine Angst. Nicht wirklich.
Das Keuchen, das ihr entschlüpft war, war nur leise gewesen, aber laut genug; mit einer geschmeidigen Bewegung sprang der schwarzhaarige Mann auf die Füße. Er wirbelte zu ihr herum, ein Messer mit silbern blitzender Klinge erschien wie aus dem Nichts in seiner Hand.
Nells Augen waren riesig in ihrem Gesicht, das dunkelblonde
Haar hing in wirrer Pracht auf ihre schmalen Schultern. Hilflos starrte sie den hochgewachsenen Mann an, der ihr gegenüberstand, und musste denken, dass sie nie zuvor in ihrem Leben ein so dunkles, gefährliches Gesicht gesehen hatte. Seine grünen Augen glitzerten unter finster zusammengezogenen schwarzen Brauen; sein schwarzes Haar war unordentlich und fiel ihm in die hohe Stirn. Während sie ihn betrachtete, drängte sich ihr wieder das Wort »gefährlich« auf, um ihn zu beschreiben.
Sie wäre nicht auf die Idee gekommen, ihn als gut aussehend zu bezeichnen, aber die wie aus Stein gemeißelten Züge hatten etwas, das in Nell den Verdacht nährte, dass sie ihn unter anderen Umständen vielleicht attraktiv gefunden hätte. Seine Nase war gerade und hochmütig, und die Jadeaugen unter den halb geöffneten Lidern mit ihren dichten schwarzen Wimpern waren faszinierend. Sein Mund war breit und gut geschnitten, die Oberlippe schmal, die Unterlippe voller. Während ihrer Musterung verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Einem sehr, sehr ansprechenden Lächeln.
»Verzeihen Sie«, erklärte er mit erstaunlich kultivierter Stimme für einen auf den ersten Blick so grobschlächtig wirkenden Mann. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Unter Nells erstaunten Augen verschwand das Messer, und er fügte hinzu: »Gestern Nacht habe ich nicht bemerkt, dass jemand hier lebt.«
»Oh, das tue ich gar …« Sie konnte sich gerade noch davon abhalten, den Satz zu beenden, und verfluchte im Geiste ihre unbedachte Zunge, schaute von ihm fort.
Nachdem er den ersten Schreck verwunden hatte, nicht allein in der Hütte zu sein, betrachtete sich Julian das schlanke Geschöpf vor ihm genauer, runzelte die Stirn. Er schaute sich nachdenklich um, und die Falte auf seiner Stirn wurde steiler.
Das hier war kaum besser als ein Loch und enthielt keinen Hinweis darauf, dass es bewohnt war, wie es selbst die ärmlichsten Behausungen aufwiesen. Und das Mädchen … Nein, entschied er, kein Mädchen, eine Frau, eine junge gewiss, aber nicht mehr frisch aus dem Schulzimmer. Sie gehörte hier nicht her. Die Spitze an ihrem Hals und den Manschetten ihres zerrissenen Nachthemds war zu fein … und das Gesicht … Sein Instinkt sagte ihm, dass hier nicht alles so war, wie es schien.
Der Anblick dieses feenhaften Gesichts warf ihn aus der Bahn, traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Er war atemlos, ihm war gleichzeitig schwindelig. Das Gefühl war so heftig, so unerwartet, dass es ein Wunder war, dass er sich so rasch von dem Schlag erholt hatte. Verunsichert, sowohl wegen der Wirkung, die sie auf ihn hatte, als auch wegen der starken Ahnung, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, kniff er die Augen zusammen und starrte sie an.
Mit niedergeschlagenen Augen kaute sie an ihrer Unterlippe. Eine Unterlippe, die Julian immer stärker in ihren Bann zog, in ihm den Wunsch weckte, ihre Zähne durch seine zu ersetzen. Diese Lippe wäre warm und so süß … Sein Blick glitt über ihre schlanke Gestalt, und seine Lenden wurden mit einem Mal unter einer entschieden unangebrachten Reaktion schwer. Das betreffende Körperteil im Geiste zur Hölle wünschend, schob er die unerwartete und unwillkommene Vorstellung, sich mit ihr auf das Lager hinter ihr sinken zu lassen, energisch beiseite und versuchte, die Situation einzuschätzen.
Sie gehörte hier nicht her, davon war er überzeugt. Sie hatte etwas an sich … Ihr Nachthemd verriet Wohlstand - wenigstens irgendwann einmal in der Vergangenheit - und
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