Skinwalker 01. Feindesland
den Appalachen gelebt und mein menschliches Ich vor den Menschen verborgen habe, vor Männern mit Gewehren und Hunden und Feuer. Es war eine gefährliche Zeit, eine Zeit des Hungers. Ich fürchte, dass es Jahrzehnte gewesen sind, viel länger als die normale Lebensspanne eines gewöhnlichen Menschen oder einer Großkatze, und dass meine Art ausgestorben ist, für mich ebenso unwiederbringlich verloren wie meine eigene Vergangenheit.
Ich erinnerte mich dunkel, dass ich während dieser Jahre ein paarmal menschliche Gestalt angenommen hatte und dann wieder zu einem Puma geworden war, bis ich mich dann schließlich endgültig zum Menschen wandelte. Das geschah ein paar Tage, bevor man mich in den Wäldern der Appalachen fand, nackt und mit Narben bedeckt. Man schätzte mich auf zwölf Jahre und diagnostizierte totale Amnesie, weil ich nicht sprechen konnte und mich nicht wie ein normal sozialisierter Mensch benahm. Tatsächlich erinnerte ich mich zeitweilig nicht mal mehr an Beast.
Ich glaube, damals war etwas passiert, etwas Schlimmes. Ich hatte Narben auf meinem menschlichen Körper, die nach Schusswunden aussahen. Ich glaube, ein Jäger hatte Beast aufgespürt. Hatte sie abgeschossen. Und um zu überleben, hatte ich mich in meine menschliche Gestalt gewandelt, so wie ich irgendwann mal in Lebensgefahr zu Beast geworden war.
Mit der Erinnerung an Beast kamen auch andere zurück, allerdings blieben sie bruchstückhaft. Ich erinnerte mich an ihre Jungen. Ich erinnerte mich dunkel an die Hungerzeiten, als Beast Alpha war und ich Beta. Und mir fielen wieder ein paar Cherokee-Worte ein, aus der Zeit vor Beast. Ich sah Gesichter vor meinem geistigen Auge – meist ältere Gesichter. Ich wusste, ich war ein Skinwalker, ein Gestaltwandler. Aber das war auch alles. Ich wusste nicht, wie lange das her war oder wie und wann wir zu dem wurden, was wir nun waren.
Seitdem hatte ich Häute, Krallen, Knochen, Zähne, Federn und sogar Schuppen anderer Tiere gesammelt und mir selbst beigebracht, die Gestalt zu wechseln. Doch noch immer tat es höllisch weh, wenn ich wieder Mensch wurde. So wie jetzt.
Als ich ohne Schmerzen atmen konnte, nahm ich die Tasche von meinem Hals und rappelte mich mit steifen Bewegungen auf. Ich sammelte meine Sachen ein und ging ins Haus. Nackt tappte ich in die Küche und schaute in alle Schränke. Genau wie Beast war ich nach dem Wandel fürchterlich hungrig, doch mir war eher nach starkem Tee und Getreidekost: Koffein, Zucker und Kohlehydrate. Seelennahrung. Ich spülte einen Kessel und einen Topf aus, füllte beide mit Wasser und fügte dem Topf Salz hinzu. Dann öffnete ich eine Schachtel Haferflocken aus den Vorräten, die der Troll mir bereitgestellt hatte, und entdeckte dabei auch das Paket, das ich bereits letzte Woche an Katies Adresse geschickt hatte. Ich war recht zuversichtlich gewesen, dass ich den Auftrag bekommen würde. Da drin war alles, was ich unbedingt brauchte, wenn ich von zu Hause weg war, unter anderem verschließbare schwarze Folientüten mit Teeblättern. Ich entschied mich für einen kräftig-würzigen kenianischen Millma-Hochland-Plantagentee. Als ich in Schubladen und Schränken nach einem Sieb oder Teefilter suchte, erspähte ich in einem Alkoven neben der Küche einen Glasschrank voller Porzellan, Silber, Steingut und Tafelgeschirr.
In einem der Fächer stand rund ein Dutzend Teekannen, darunter etliche chinesische: eine kupferrote Yixing-Keramikkanne, eine Yixing-Kanne mit zartem Blütenrelief, beide geometrisch geformt, und eine hohe Yixing-Kanne mit verlängertem Schnabel und Deckel, sodass beim Ziehen der Dampf abkühlte und die Flüssigkeit wieder zurück in den Tee rann. Dann war da noch eine sehr alte, klassisch chinesische Tonkanne mit einem Griff aus modrigem Bambus. Ich war entzückt. Vorsichtig schob ich die chinesischen Kannen zur Seite. Dahinter entdeckte ich zwei japanische Kannen, einen Chambord-Teebereiter von Bodum und eine aus Eisen, die alt aussah und es sicher auch war, denn die Kreuzschraffierungen an den Seiten waren sehr abgegriffen.
Es gab auch englische Kannen in verschiedenen Größen, aus Porzellan und aus Gusseisen mit Eisengriffen, die sich über den Deckel schwenken ließen. In der vorderen Ecke gleich hinter der Tür lag ein Dutzend Teefilter in verschiedenen Formen und Größen und ein gewebter Bambusfilter, der zerbröselte, als ich ihn berührte. Der Schrank roch nach Katie, doch der Geruch war alt und nur noch schwach wahrnehmbar.
Ich
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