Sklaven der Begierde
Vaters. Freunde seiner Mutter. Und alle hatten Hände, die man schütteln musste, Wangen, die man küssen musste. Dabei wollte er nichts lieber tun, als sich auf dem Fußboden zusammenzurollen und zu schluchzen, stundenlang, tagelang, wochenlang, monatelang, jahrelang, bis er endlich starb und wieder bei seinen Eltern sein konnte.
Danach waren die Eltern seiner Mutter zu ihm gekommen. „Es ist Zeit, zu gehen, Liebling“, sagten sie in ernstem Ton, und diese sechs Worte waren das Schlimmste, was er gehört hatte, seit Marie-Laure ihm drei Tage zuvor jene unfassbaren fünf Worte zugeflüstert hatte: „Maman und Papa sind tot.“
Kingsley hatte sich wie in Trance wegführen lassen. Aber er wurde unsanft aus dieser Trance gerissen, als sich fünf scharfe Fingernägel in seinen Arm gruben.
„Non. Non …“ Marie-Laure hatte geweint und sich verzweifelt an ihn geklammert. Ihr schönes Gesicht war schmerzverzerrt, und ihr Vokabular hatte sich auf ein einziges Wort reduziert – non . Zehn Minuten hielt sie sich an ihrem kleinen Bruder fest, weinte an seiner Schulter, streichelte sein Haar … und Kingsley konnte endlich auch weinen.
Seine Eltern waren auf dem Weg in die Toskana gewesen, um dort eine Art zweite Flitterwochen zu verbringen. Das war zumindest der Plan gewesen. Sie hatten es nicht mal aus Paris herausgeschafft. Jetzt hatten er und Marie-Laure nur noch einander. Und nun wurde auch er ihr genommen, um in Amerika zu leben.
„Sie drehte nach der Beerdigung völlig durch. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Als unsere Großeltern sie schließlich von mir wegziehen konnten, waren meine Arme blutüberströmt.“
Kingsley machte sich Sorgen um seine Schwester. Sie liebte zu sehr. Viel zu sehr. Ihn. Ihre Eltern. Jeden, der ihre Aufmerksamkeit fesselte. Er wünschte, sie wäre hier bei ihm in Amerika. Das würde sie besänftigen, ihre Nerven zur Ruhe kommen lassen. Vielleicht könnte sie hier sogar anfangen, ihre Wunden zu heilen, so wie er.
„Manchmal ist Schmerzen zufügen der einzige Weg, auf dem man seine Liebe zeigen kann.“
Kingsley sah ihn scharf an. „Tust du mir deshalb weh?“
Sørens Miene verriet nicht, was er dachte. „Ich tue dir ganz bestimmt nicht weh, weil ich dich hasse“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. „Aber erzähl weiter. Wie geht es Marie-Laure heute?“
„Nicht gut. Sie macht sich Sorgen um mich. Nachdem ich an meiner alten Schule zusammengeschlagen worden war, hat sie versucht, Mamans Schmuck zu verkaufen, damit sie sich ein Flugticket nach Amerika leisten kann. Sie hat kein Geld. Papa hatte Schulden. Meine Eltern haben uns praktisch nichts hinterlassen.“
„Du klingst so, als ob du dir ebenfalls Sorgen um sie machst.“
Kingsley beschäftigte sich weiter mit dem Tisch. „Das tue ich. Sie ist so emotional. Nicht schwach, das nicht. Eigentlich ist sie sogar sehr stark. Und so unglaublich leidenschaftlich. Sie liebt jeden so, als würde sie ohne ihn sterben. Es ist nicht … gut, wenn man sich zu viel aus den Menschen macht.“
„Warum nicht?“
„Weil sie sterben. Oder irgendwann mal sterben werden. Sogar du. Wir sind vom Tag unserer Geburt an zum Sterben verdammt. Da sollten wir doch in der Zwischenzeit so viel Spaß wie möglich haben, n’est-ce-pas? Am Ende spielt das alles sowieso keine Rolle.“
„Du satanischer Hugenotte! Ich kann gar nicht fassen, dass ich mich mit einem Calvinisten abgebe.“
„Ich auch nicht.“ Kingsley bemühte sich um eine ernste Miene. Er wollte Søren nicht spüren lassen, wie sehr er es genoss, diesem katholischen Pianisten nahe zu sein, der jeden an der Schule in Angst und Schrecken versetzte – nur ihn nicht. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Offenbar habe ich mir gar nichts gedacht.“ Søren kam zu ihm und nahm ihm den Putzlumpen weg. „Offenbar denke ich bei dir nicht.“
Er streckte eine Hand nach Kingsleys Hals aus und knöpfte mit der anderen sein Hemd auf. Kurz darauf lag Kingsley nackt und mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch. Die Kante der grob geschnitzten Holzplatte schnitt in seine Hüften. Søren hatte seinen Ledergürtel abgeschnallt und benutzte ihn jetzt, um zu demonstrieren, wie wenig er von Kingsleys theologischen Ausführungen hielt.
Und als er ihn so gründlich durchgepeitscht hatte, dass Kingsleys Rücken über und über von brennenden Striemen bedeckt war, demonstrierte Søren, wie wenig ihm ihre theologischen Differenzen ausmachten. Zwei Stunden voller Leiden und Lust rauschten nur
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