Sklaven der Begierde
Talel sehen. Was ist da los?“
„Nichts Besonderes.“
Sie blieb abrupt stehen und schaute ihn prüfend an. Er nahm ihre Hand, aber sie riss sich von ihm los und drängte sich durch die Menge.
„Talel?“, rief sie, und Wesley blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzulaufen.
„Nora, lass uns gehen.“ Er holte sie direkt vor der Box ein. „Oh Scheiße.“
„Wesley …“ Sie klang so verstört, als bräche ihr gerade das Herz, und er sah den Grund dafür vor sich.
Der große schöne „Spanks For Nothing“ lag in seiner Box auf der Seite, still und bewegungslos. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein, nichts schien gebrochen. Ein schlafendes Pferd – das war alles. Wenn man davon absah, dass Pferde nicht lange liegen blieben und schon gar nicht so.
Talel kniete an der Seite seines Pferdes, ein Tierarzt sprach mit leiser Stimme auf ihn ein.
„Komm, Nora. Wir können hier nichts tun.“
Talel hob den Kopf und traf Noras Blick.
„Was ist passiert?“, flüsterte sie.
„Er ist tot.“
NORDEN
DIE VERGANGENHEIT
Er erzählte keinem, woher seine Verletzungen stammten. Er weigerte sich, auf Fragen zu antworten. Seine Großeltern waren entsetzt, als sie am letzten Schultag kamen, um ihn abzuholen, und ihren Enkel auf der Krankenstation vorfanden: mit aufgeplatzter Lippe, genähter Stirn, aufgeschürften Knien, Striemen an den Armen, einer angebrochenen Rippe und mit Blutergüssen übersät. Und das waren nur die Wunden, die er den Arzt sehen ließ. Er wusste, dass er auch innere Verletzungen hatte. Risse, ganz eindeutig. Es tat verdammt weh, aber er hielt diesen Schmerz geheim, so geheim wie das kleine silberne Kreuz, das er Søren vom Hals gerissen hatte. Er umklammerte es die ganze Zeit mit der Hand und hatte es noch nicht ein Mal losgelassen.
Seine Großeltern nahmen ihn genauso gründlich in die Mangel, wie die Priester es getan hatten. Kingsley dachte gar nicht daran, zu lügen, obwohl er ganz leicht behaupten könnte „Ich bin im Wald hingefallen“, und dann hätte er seine Ruhe. Aber diese Nacht mit Søren – sie bedeutete ihm so viel, dass er sie nicht mit einer Unwahrheit besudeln wollte. Und so sagte er nur: „Ich möchte nicht darüber reden. Ich bin okay.“ Die Worte spendeten ihm Trost. Er musste sie hundertmal in zwei Tagen gesagt haben, so oft, bis sie die einzigen Worte zu sein schienen, die er kannte. Aber die reine Wahrheit enthielten auch sie nicht. Er wollte darüber reden, aber nur mit Søren. Und er war auch nicht okay. Das war gar kein Ausdruck für diese unglaubliche Nacht, in der Søren ihn zerrissen und unter dem Sternenhimmel ausgebreitet hatte. Kingsley wusste kein Wort dafür, außer vielleicht Gott . Er war nicht okay. Er war Gott.
Und Søren war Gott. Kingsley hatte ihn angebetet und betete ihn weiter an. Aber er durfte die Krankenstation nicht verlassen, und Besucher waren nicht erlaubt. Er nahm an, dass die Priester hofften, die erzwungene Isolation würde ihn dazu bringen, sich ihnen zu öffnen und zu erklären, was ihm widerfahren war. Stattdessen bestärkte die Einsamkeit ihn nur darin, über jene Nacht im Wald Stillschweigen zu bewahren. Er hatte ohnehin nicht die Worte, um zu beschreiben, was passiert war, weder auf Englisch noch auf Französisch. Jedenfalls nicht so, dass irgendjemand es verstehen könnte. Denn plötzlich trennte ihn eine Wand vom Rest der Welt. Die Priester, seine Großeltern, seine Mitschüler – sie würden sagen, dass es Vergewaltigung war. Aber Kingsley wusste es besser. Er hatte es gewollt, es gebraucht. Er hatte zugelassen, dass ihm Gewalt angetan wurde. Und in dem Moment, in dem er sich Søren unterworfen hatte, war er wirklich und wahrhaftig zu sich selbst gekommen.
„Kingsley, bitte. S’il vous plaît …“ Seine Großmutter legte ihre Hand sanft auf die Seite seines Gesichts, die nicht von blauen Flecken entstellt war. Er lächelte über ihren Versuch, französisch zu sprechen. Es berührte sein Herz, dass sie ihn in seiner Muttersprache anflehte, aber er erzählte ihr trotzdem nichts.
In der zweiten Nacht brach sein Freund Christian in die Krankenstation ein. Als Kingsley aus einem leichten Schlummer aufwachte, blickte er in das entsetzte Gesicht seines Klassenkameraden.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, sagte er und gähnte.
Aber Christian starrte ihn weiter an. „Du siehst aus, als ob … Wieso lebst du eigentlich noch?“
„Durch die Gnade Gottes, mon ami.“
„Wer hat dir das
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