Sklaven der Begierde
Bürde, wie ein Symbol.
Zwei Wochen bevor die Schule wieder begann, saß Kingsley auf der Veranda hinter dem Haus seiner Großeltern und hielt Zwiesprache mit den Sternen. Sie spendeten ihm Trost. Diese Sterne waren die einzigen Zeugen jener Nacht. Konnten sie sich so gut daran erinnern wie er? Er hatte gerade angefangen, sie über das auszufragen, was sie gesehen hatten, als er Stimmen aus der Küche hörte.
„Mir ist egal, was er sagt, es geht ihm nicht gut. Es geht ihm ganz eindeutig nicht gut“, sagte seine Großmutter, und in ihrem Tonfall war etwas, das ihn an seine Mutter erinnerte. Wie er Maman vermisste. Kingsley wusste, dass seine Großmutter seinem Vater die Schuld am Tod ihrer Tochter gab. Sie war in Paris zur Schule gegangen und hatte sich in einen schneidigen älteren Franzosen verliebt. Der Bastard hatte die Unverschämtheit besessen, ihre Liebe zu erwidern und die achtzehnjährige Karen Smith dann auch noch zu heiraten. Er hatte Madame Boissonneault aus ihr gemacht. Und nicht mal die beiden Kinder, die aus der Ehe hervorgingen, hatten ihre Eltern davon überzeugt, dass Kingsleys Vater irgendetwas anderes war als ein Verführer junger Mädchen. Und Kingsley wusste, was sie über ihn dachten. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm . Wenn sie erst wüssten, dass er die Mädchen zwar verführte, sein Herz aber einem jungen Mann gehörte …
„Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?“, fragte sein Großvater. Er klang frustriert. Kingsley vermutete, dass sie nicht das erste Mal über dieses Thema sprachen.
„Father Henry hat heute angerufen, um die Angelegenheit zu diskutieren. Er ist der Meinung, dass Kingsley nicht zurückkommen sollte. Sie machen sich Sorgen über ihn, über das, was ihm passiert ist und worüber er nicht reden will.“
Nicht zurückkommen? Kingsleys Zwiesprache mit den Sternen war vergessen. Warum sollte er nicht zurückkommen? Father Henry hatte nichts dergleichen zu ihm gesagt. Wo kam jetzt plötzlich diese Idee her?
Søren – konnte er den Father darauf gebracht haben? Hatte er Father Henry gesagt, dass er etwas über diese Nacht wusste, bereute er sie etwa?
Kingsley wurde von Panik überwältigt. Was, wenn das tatsächlich Sørens Wunsch war? Die Priester richteten sich oft nach seinen Vorschlägen.
Er verbrachte die nächsten Tage mit Grübeln. Er konnte nicht in St. Ignatius bleiben, wenn Søren ihn dort nicht wollte. Aber er musste ihn wiedersehen. Deshalb musste er zurückgehen.
Eine Woche bevor das neue Schuljahr begann, saß er mit seinen Großeltern am Tisch. Er aß nicht, und er sprach nicht.
„Du hast heute einen Brief bekommen.“ Seine Großmutter reichte ihm einen weißen Umschlag. Kingsley warf nicht mal einen Blick darauf. Bestimmt wieder von Marie-Laure. Er würde ihn später lesen.
„Bald fängt die Schule wieder an.“ Sein Großvater blickte ihn über den Rand seiner Lesebrille an. „Deine Großmutter und ich haben beschlossen, die Entscheidung dir zu überlassen. St. Ignatius oder Portland High?“
Er hatte die Wahl. Aber beide Möglichkeiten schienen ihm unmöglich.
Kingsley ließ sich vornübersinken. Sein Magen schmerzte. Sein Kopf schmerzte. Er brauchte irgendeinen Hinweis, ein Zeichen.
Der Brief lag auf seinem Schoß, und die Handschrift auf dem Umschlag gehörte nicht Marie-Laure oder einer anderen Frau. Es war eine Männerschrift, kraftvoll und dominant.
Langsam, mit zitternden Fingern, öffnete er den Brief und las das eine Wort, das auf dem elfenbeinfarbenen Papier stand.
Reviens .
Komm zurück .
Die Unterschrift bestand aus einem geschwungenen S mit einem Querstrich.
Kingsley hob den Kopf und sah seine Großeltern an.
„Ich gehe zurück nach St. Ignatius.“
NORDEN
DIE GEGENWART
Kingsley starrte Søren nur einen Moment lang an, dann schüttelte er in tiefstem Abscheu den Kopf und ging davon, tiefer in den Wald hinein. Er hörte Schritte hinter sich, aber er drehte sich nicht um. Diesmal rannte Kingsley nicht davon, aber er war auch nicht besonders scharf darauf, eingeholt zu werden.
Dreißig Jahre waren vergangen, seit er zuletzt dieses gefährliche Terrain durchquert hatte. Hinter den dicht beieinanderstehenden Bäumen verbargen sich steile Felswände. Wer nicht aufpasste, konnte ziemlich böse abstürzen. Doch seine Beine trugen ihn unaufhaltsam vorwärts. Kein Wunder, wenn man bedachte, wie oft er damals diesen Pfad entlanggegangen war. Nach einer halben Stunde erreichte er einen Grat, von dem aus man eine tief
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