Skorpion
Etagen des medizinischen Zentrums von Weill Cornell. Er war an subkutane Mikrodoc-Geräte angeschlossen, die einen Schrei ans Krankenhaussystem senden würden, sollten seine Vitalzeichen in irgendeiner Weise in den Keller gehen, erklärte die Frau an der Rezeption mit einem begeisterten Lächeln. Zudem hatte er Notschalter im Badezimmer, gleich neben dem Bett und an seinem Rollstuhl. Ein komplettes Notfallteam sowie ein Notfallarzt standen, speziell für Patienten auf diesen Ebenen, stets in Bereitschaft. Norton dankte ihr, und sie gingen nach oben. Draußen vor der Suite stand ein Sicherheitskommando von der COLIN-Wache, zwei hartgesichtige Männer sowie eine Frau. Die drei erwarteten sie vor dem Aufzug mit professioneller Anspannung, die sich löste, als sie Norton erkannten. Carl musste sich trotzdem von ihnen abtasten lassen. Er wusste nicht, ob er es seinem Status als Dreizehner zu verdanken hatte oder ob es einfach eine Routineprozedur war. Je entspannter sie wären, desto besser. Norton sagte dem Kommandanten, er solle sich nicht die Mühe machen und sie hineinfuhren, es wäre schon in Ordnung so. Mr Ortiz wusste, dass sie kämen.
Die Türen zur Suite öffneten sich surrend, und sie schritten hindurch. Ortiz saß in einem Rollstuhl im Wohnbereich, gleich neben den bodenlangen Fenstern. Er trug einen lockeren grauen Seidenpyjama, hielt ein offensichtlich vergessenes Buch in Händen und war stattdessen in die Aussicht über das kubistische Dickicht der Stadt bis hin zum Park verloren. Im Stuhl wirkte er schmal und zerbrechlich, das gebräunte Gesicht war hohlwangig und zeigte ein erschöpftes Grau, das graue Haar war an einigen Stellen weiß geworden. Er wirkte nicht so, als ob er die sich öffnende Tür gehört hätte, und er drehte sich nicht um, als sie vom Flur hereintraten. Carl überlegte, ob er bereits wusste, weshalb sie kamen.
»Ortiz«, sagte Norton hart und trat einen Schritt vor.
Ortiz drückte die Knöpfe auf der Lehne des Rollstuhls, und der drehte sich lautlos auf der Stelle zu ihnen herum. Er lächelte ein wenig gezwungen.
»Tom Norton«, sagte er, als wäre dies eine philosophische Frage, die ihn beunruhigt hatte. »Tut mir so leid, das mit Ihrem Bruder, Tom. Ich habe Sie schon anrufen wollen. Und Carl Marsalis, natürlich. Ich hatte immer noch keine Gelegenheit, Ihnen für die Rettung meines Lebens meinen Dank auszusprechen.«
»Danken Sie mir noch nicht.«
»Aha.« Etwas geschah auf der Oberfläche des verwüsteten Gesichts. »Nun ja, ich habe auch nicht geglaubt, dass dies ein Höflichkeitsbesuch sei.«
»Jeff hat geredet.« Norton zitterte unter der Heftigkeit dessen, was er quer über den Kontinent hinweg in sich getragen hatte. »Kommando Skorpion. Wyoming. Die ganze Sache. Also erzählen Sie mir nicht, dass es Ihnen leidtäte, Sie Stück Scheiße! Sie haben das angerichtet, alles. Sie sind der Grund, weshalb Jeff tot ist.«
»Ja, wirklich?« Ortiz schien das nicht anzweifeln zu wollen. Er legte die Hände Handfläche an Handfläche in den Schoß und drückte sie zusammen, vielleicht um seine Furcht zu meistern. »Und deshalb haben Sie Ihren Racheengel mitgebracht. Nun ja, das passt, vermute ich, aber ich sollte Sie warnen, dieser Stuhl hat…«
»Wissen wir«, unterbrach ihn Carl unfreundlich. »Und ich bin nicht wegen Norton hier. Ich bin wegen Sevgi Ertekin gekommen.«
»Ertekin?« Ein Stirnrunzeln glitt über Ortiz’ Gesicht, dann klärte es sich. »Oh, ja, die Beamtin, bei der Sie in Harlem geblieben sind, als wir Sie befreit hatten. Ja, sie ist ebenfalls gestorben, nicht wahr? Vor einigen Tagen. Ich befürchte, man hat mich nicht allzu sehr auf dem Laufenden…«
»Sie ist nicht gestorben.« Carl unterdrückte die Wut mit einem distanzierten, antrainierten Reflex. Seine Stimme war ruhig und kühl, wie der schwache Biss des Winters in der New Yorker Luft draußen. »Sevgi Ertekin wurde ermordet. Von Ihrem Racheengel, Ortiz. Von Onbekend. Merrin. Wie Sie ihn auch zu nennen belieben. Sie ist gestorben, als sie mir das Leben rettete.«
»Das… das tut mir auch sehr leid.«
»Das reicht nicht.«
»Ihnen? Nein, das kann ich mir auch nicht vorstellen. Vermutlich bestand eine gewisse…« Ortiz runzelte die Stirn. »… eine gewisse Verbindung zwischen Ihnen und dieser Ertekin.«
Carl schwieg. Worte würden ihn nirgendwohin bringen.
»Ja, das muss so gewesen sein. Euch ist letztlich alles fast völlig egal, ihr braucht so wenig, vom Material der Welt und an anderen
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