Slant
sich, ob er in ihrem Gesicht erkennt, dass sie ihren Sohn nicht mehr für ein schönes Kind hält. Als Baby war er wunderschön. »Sie wollte ihn nicht mehr.«
»Ober-Merde, das ist gelogen! Ich habe ihn auf einen anderen Stein gelegt, um ihn dort aufzubewahren.«
Jonathan kommt aus dem Schlafzimmer herauf. Seine Schritte sind schnell und schwer. Ihr Schlafzimmer liegt im Untergeschoss unterhalb des Eingangsbereiches. Die großen Erkerfenster gehen auf den Garten hinaus, der inzwischen einen recht heruntergekommenen Eindruck macht, obwohl Jonathan einige Beete mit zähen ganzjährigen Blumen bepflanzt hat.
»Gib ihn ihr, bitte«, sagt Chloe.
»Mutter!« Hiram ist schockiert. »Glaubst du ihr etwa?«
»Wenn sie ihn braucht und ihn gefunden hat, dann kann sie ihn doch behalten! Wozu brauchst du ein Stück Rosenquarz?«
Hiram starrt mit dem gleichen Ausdruck auf sie herab, der auch in Calibans Gesicht stand, nachdem Ariel ihm einen Streich gespielt hatte. Chloe spürt, wie sich ihr Groll regeneriert. »Um Gottes willen, Hiram, es ist doch nur ein Stein!«
Penelope nutzt die Verblüffung ihres Bruders, schnappt sich den Stein und bringt ihn nach oben. Hiram hockt sich auf die Treppenstufen. Er ist körperlich fit und bewerkstelligt einen perfekten Lotussitz, aber sein Gesicht ist alles andere als entspannt.
Jonathan trifft ein und blickt zu Hiram hinauf, dann auf Chloe. Penelope ist im Obergeschoss in ihrem Zimmer verschwunden. Jonathan ist in Gedanken ganz woanders.
»Was war hier los?«, fragt er.
»Was ist ein Schwurt?«, fragt Chloe.
»Jemand, der sich in einem Fibe-Kommunikationsraum unverschämt aufführt«, antwortet Jonathan.
Chloe wagt sich nur selten ins Fibe. Sie benutzt ihr Pad hauptsächlich als Kalender und Telefon, für LitVid und Mail. Ihre Projektoren sind im Grunde überflüssig, und sie wird niemals zulassen, dass Yox-Player in ihrem Haus installiert werden – und erst recht keine Patches.
»Inwiefern unverschämt?«, fragt sie und macht sich auf den Weg in die Küche. Sie weiß, dass sie Jonathan davor bewahrt hat, sich aufzuregen, bevor er zu seinem Treffen geht. Und sich selbst hat sie vor neuen Wutgefühlen gegen ihren Ehemann bewahrt.
»Intro, verstockt, abweisend«, sagt Jonathan und folgt ihr. Für den Abend mit den Stoikern hat er seinen feinen Longsuit angezogen. Die Stoiker sind der Regionalverband der John Adams Group, allesamt wohlhabende Neo-Föderalisten. »Ein Schwutt ist jemand, der ein nicht rückverfolgbares Gesicht aufsetzt und es katzt, du weißt schon, ein kontaktscheuer Kneifer, mit thymischer Beeinträchtigung.«
Chloe schaut sich die Küche an. Die Beleuchtung hat sich automatisch eingeschaltet, als sie eingetreten ist. Die kombinierte Krümmung der Spüle und Anrichte, der Schrank, in dem der Arbeiter ruht, die Herdsäule und der Luftvorhangkühler sind grau und schwarz mit gelben Akzenten, wirklich hübsch. Sie fühlt sich an etwas aus den Neunzehnhundertdreißigern erinnert, ein Auto, den Bugatti Royale, von dem nur sehr wenige hergestellt wurden, mit dem der berühmte Yox-Komiker Wilrude auf dem Ring in Beverly Hills Rennen fährt… ganz oben auf dem Comb, der für die Stars reserviert ist…
Sie dreht sich zu Jonathan um und erlaubt ihm, sie zu küssen. Er küsst sehr aufmerksam. Jonathan hat ihr noch nie einen schlechten Kuss gegeben, denkt sie.
»Etwas steif heute«, sagt Jonathan. Er scheint nicht sonderlich besorgt zu sein, wenn sie steif ist, aber nun hat er es schon zum dritten Mal in drei Tagen gesagt. Chloe und Jonathan sind lange genug verheiratet, so hofft sie, um solchen vorübergehenden Stimmungen nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Trotzdem macht ihr das Ärgernis – ein Schatten am Rande ihrer Gedanken – leichte Sorgen.
In seinem Anzug mit den langen Schößen sieht Jonathan aus, als wollte er zu einer Party der 1930er gehen. Dieses Jahrzehnt war vor zwei Jahre ganz groß in Mode; jetzt sind die Deprimierenden Neunziger im Spin. Chloe mag die Neunziger überhaupt nicht. Sie erinnern sie zu sehr an das Jetzt, und das Jetzt lässt sie völlig kalt.
»Was liegt heute Abend beim Treffen an?«, erkundigt sich Chloe.
Hiram kommt im Galopp in die Küche und fragt, ob er sein Abendessen mitnehmen kann. Chloe erlaubt es ihm, da die Familie ohnehin nicht vollzählig sein wird. Er grinst und holt sich sein Essen aus dem Kühler, um es zum Auto-Koch neben dem Herd zu bringen.
»Ein Wissenschaftler hält einen Vortrag über irgendwas
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