SLEEP - Ich weiss, was du letzte Nacht getraeumt hast
hat.
»Okay«, sagt sie. »Und jetzt?«
Carl sieht genervt aus. Er schüttelt den Kopf.
»Na, was meinst du denn, was du tun solltest?«
»Ich will ihn nicht sehen, falls es das ist, was du meinst.«
»Ich? Natürlich nicht. Es liegt vollkommen bei dir, ob du den Kerl sehen willst oder nicht.«
»Genau. Richtig.«
»Ich meine, er ist als Vater doch ein Totalversager. Er hat nie etwas für dich getan. Wer weiß, vielleicht hat er ja sogar eine andere Familie. Denk doch mal, wie merkwürdig das wäre, wenn du da einfach hingehst und sie sind alle da …« Carl bricht ab.
»Klar. Mein Gott, daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Ich versuche, mich daran zu erinnern, ob es an der Fieldridge High irgendwelche Feingolds gab. Vielleicht hast du ja Halbgeschwister?«
»Da ist ein Junge, Josh, aus der Unterstufe, der beim Basketball mitgespielt hat«, erinnert sich Janie.
»Der heißt Feinstein.«
»Oh.«
Sie schweigen beide einen Augenblick, während Carl darauf wartet, dass Janie etwas sagt.
»Feingold, das ist jüdisch, oder?«, fragt sie.
»Macht das einen Unterschied?«
»Nein. Ich meine, wow. Das ist doch auf jeden Fall interessant. Ich habe ehrlich gesagt nie darüber nachgedacht, woher ich komme, weißt du? Geschichte. Vorfahren. Wow.« Janies Gedanken schweifen ab.
Carl nickt. »Na ja, das wirst du wohl nie erfahren, nehme ich an.«
Janie erstarrt und sieht ihn an.
Dann zuckt sie zusammen und schlägt ihm auf den Arm.
Fest.
»Verdammt!«, flucht sie. »Du nervst!«
Carl reibt sich lachend den Arm. »Oh Mann, was habe ich denn jetzt schon wieder angestellt?«
Janie verkneift sich ein Grinsen und schüttelt den Kopf. »Du hast dafür gesorgt, dass es mir nicht mehr egal ist!«
»Na, komm schon«, entgegnet er. »Vorher war es dir doch auch nicht egal. Hast du dich denn nie gefragt, wer dein Vater ist?«
Janie denkt an den immer wiederkehrenden Traum ihrer Mutter – das Kaleidoskop, in dem Dorothea und der Hippie Händchen haltend herumtreiben. Mehr als einmal hat sie sich gewünscht, zu wissen, wer ihr Vater ist. Und jetzt fragt sie sich, ob der Mann in dem Traum Henry war.
»Wahrscheinlich ist er ein Anzugträger mit zwei Komma zwei Kindern, einem Hund und einem Fertighaus.« Janie sieht sich in ihrer eigenen Bruchbude von Haus um. Ihr Bruchbuden-Leben, in dem sie die Mutter für eine Alkoholikerin spielt, die doppelt so alt ist wie sie selbst. Sie weiß, dass sie ohne Dorotheas Sozialhilfe und ihrem eigenen Einkommen nur einen Schritt von der Obdachlosigkeit entfernt wären. Aber daran will sie lieber gar nicht erst denken.
Janie atmet tief durch.
»In Ordnung. Ich werde jetzt duschen und später zum Krankenhaus fahren. Ich nehme an, du wirst mitkommen wollen?«
Carl grinst. »Klar. Ich bin doch dein Fahrer, weißt du noch?«
11:29 Uhr
Carl und Janie gehen die Treppe zum dritten Stock hinauf. Je näher sie den großen Türen zur Intensivstation kommen, desto langsamer wird Janie, bis sie schließlich ganz stehen bleibt. Abrupt wendet sie sich ab und geht stattdessen ins Wartezimmer.
»Ich kann das nicht«, erklärt sie.
»Du musst das auch nicht tun. Aber ich glaube, wenn du es nicht tust, wirst du dich später darüber ärgern.«
»Wenn er noch andere Besucher hat, gehe ich.«
»Das ist eine gute Taktik.«
»Was ist … wenn er wach ist? Was, wenn er mich sieht?«
Carl presst die Lippen aufeinander. »Nun, da deine Mutter erzählt hat, dass sein Gehirn explodiert ist, halte ich das für sehr unwahrscheinlich.«
Janie seufzt tief und geht auf die Doppeltüren zu. Carl folgt ihr.
»Okay.«
Sie stößt die Tür auf und sieht sich automatisch um, wie früher im Heather-Pflegeheim, um zu überprüfen, ob bei irgendwelchen Patienten die Türen offen stehen. Zum Glück sind die meisten geschlossen, und sie empfängt heute keine fremden Träume.
Janie geht dieses Mal zuversichtlicher an den Tresen. »Henry Feingold, bitte.«
»Nur Familie«, antwortet der Pfleger automatisch. Auf seinem Namensschild steht »Miguel«.
»Ich bin seine Tochter.«
Er sieht sie aufmerksamer an. »Hey, bist du nicht die Drogenfahnderin?«
»Äh … ja.« Janie versucht, nicht allzu nervös zu wirken.
»Ich habe dich in den Nachrichten gesehen. Das war gute Arbeit.«
Janie lächelt. »Danke. … Also, welches Zimmer?«
»Zimmer dreiundzwanzig. Am Ende des Gangs rechts.« Miguel deutet auf Carl. »Und du?«
»Er ist …«, beginnt Janie. »Er und ich … wir sind zusammen.«
Der Pfleger
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