Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Snack Daddys Abenteuerliche Reise

Snack Daddys Abenteuerliche Reise

Titel: Snack Daddys Abenteuerliche Reise
Autoren: Gary Shteyngart
Vom Netzwerk:
Kultiviertheit. (Wenigstens hatten die Hooligans von nebenan ihren Grabstein nicht wie die anderen mit einem Hakenkreuz verziert.) Oh, meine arme Mamotschka! Das weiche Fleisch hinter ihrem Ohrläppchen, welch vollkommenes Versteck für eine Kindernase. Der graue Pullover, an den Ellenbogen durchgescheuert, obwohl ihre amerikanische Nähmaschine pausenlos ratterte. Neunzehnneununddreißig bis 1983. Von Stalin zu Andropow. Eine Zeit, in der man nicht gelebt haben möchte.
    Hätte sie mich nur in New York sehen können. Sie wäre stolz auf mich gewesen. Ich hätte sie in einen einfachen Kleiderladen geführt und ihr einen kleinbürgerlichen Pullover in irgendeiner grellen neuen Farbe gekauft. Das machte den Reiz meiner Mutter aus – sie hätte nicht nach Botox verlangt oder nach federbesetzten Stöckelschuhen, nicht wie der andere russische Trash auf Besuch. Denn für kultivierte Menschen ist das Kleinbürgerliche gut genug.
    Die hochmütige nordische Sonne hatte inzwischen ihren Zenit erreicht und tat ihr Bestes, unsere Scheitelkäppchen in Brand zu setzen. In Russland hat selbst die Sonne einen Hang zum Antisemitismus. Windböen trugen unangenehmen Sowjetgeruch heran – Polymere? – und bedeckten uns mit Bonbonpapier, aufgeweht vom Müllhaufen eines nahen Hochhauses, das, wie so vieles andere, halb eingestürzt war, halb in Flammen stand. Schokolade- und spuckeverklebt hing der Müll an uns wie Blutegel und verwandelte uns in Werbeflächen für so herrliche hausgemachte Delikatessen wie
SNEAKERS
und
TWIKS .
    Es war wie ein Begräbnis im
schtetl
, eine Art Klezmer-Improvisation ohne Musikinstrumente. Viel Heulen, Zähneklappern und getürkte Herzinfarkte, junge Gesichter, die sich zwischen alte Brüste gruben. »Tröstet das Kind!«, schrie irgendein Schwanz in meine Richtung. »Die arme Waise! Möge Gott über ihn wachen!«
    »Mir geht’s gut!«, rief ich zurück und winkte dem aufgeregten Trauergast schwach zu, sicher einer meiner vertrottelten Verwandten. Alle schoben sie mir ihre Visitenkarten in die Tasche, in der Hoffnung, doch noch ein Almosen zu erhalten (Papa hatte ihnen nichts hinterlassen), und fragten sich, warum ich mich von ihresgleichen so entfremdet hatte, warum ich nicht mit meinen hirnlosen Vettern befreundet war oder mit meinen nuttigen jungen Nichten und blutsaugerischen Neffen, die ihre Freitagabende damit zubrachten, in ihren billigen russischen Niva-Jeeps den Newskij längszupesen und sich aufreißerisch um unterernährte Mädchen in engen synthetischen Klamotten oder Arbeiterjungen mit primitiven Gelfrisuren zu bemühen. In erstaunlich großer Zahl suchten Vainbergs aller Altersklassen unsere Erde heim. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren hatte Stalin die Hälfte meiner Familie umbringen lassen. Möglicherweise die falsche Hälfte.
    Mein Diener wich nicht von meiner Seite und trug ein Lederetui, das ein paar Schweine- und Hühnerrouladen aus dem berühmten Feinkostgeschäft Jelissejew enthielt, ein Fläschchen Tavor und ein Schlückchen Johnnie Walker Black, sollte ich schwach werden und umzukippen drohen. Meine einzigen Freunde, Aljoscha-Bob und Rouenna, hockten in einer Ecke beieinander, und ihre relativ westliche Schönheitund Standfestigkeit gaben ihnen die Anmutung amerikanischer Filmstars. Ich verbrachte die halbe Trauerfeier damit, auf sie zuzugehen, wurde aber jedes Mal von Bittstellern abgefangen.
    Die Truppe aus der schon erwähnten Synagoge hielt sich in Bereitschaft, alte Männer mit zittrigen Händen, feuchten Augen und großen Schwabbelbäuchen – gern wurde Papa das moralische Gewissen unserer Stadt an der Newa genannt, ein menschlicher Stützpfeiler, der die Lermontow-Synagoge aufrechterhielt wie eine Art wahnsinniger Atlas von Zion. Und übrigens, sieh nur die traurige Jüdin am Grabe! Die stille Sarah! Die Gardenien ans Herz gedrückt!
Ach, an ihr eigen Herz!
Denn kein Herz schlägt stärker (oder schneller) als ein jüdisches Herz! Oh, was wären wir nur für ein schönes Paar! Die Wiedergeburt der jüdischen Gemeinde von Leninsburg! Warum auch nur noch eine Stunde ohne einander sein? Mache, oh Mischa, diesen Tag der Trauer zu einem Tag der Erneuerung! Hör auf die Alten! Zeig es dem herzlosen Schwein, der deinen Papa auf dem Gewissen hat, zeig ihnen, dass …
    Na ja, das einzige Problem mit so einer Geste bestand darin, dass die besagten herzlosen Schweine, Oleg der Elch und sein syphilitischer Vetter Zhora, tatsächlich zur Beerdigung des Geliebten Herrn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher