Snapshot
hatte, Richtung Ausgang ab, während Winter die Notaufnahme betrat. Im Wartebereich für Angehörige traf sich sein Blick mit dem eines jungen, durchtrainierten Typen mit auffällig kurzem Haar. Der Typ starrte ihn wütend an. Winter hatte keine Ahnung warum, aber da der Kerl knapp eins neunzig und wie ein Kleiderschrank gebaut war, fragte er nicht weiter nach.
Drinnen führte ihn eine Krankenschwester zu einem Bett hinter einem Vorhang. Winter zog den Vorhang zurück– und schaute in die vorwurfsvollen Augen eines glatzköpfigen, grün gekleideten Arztes, der sich Seite an Seite mit einer molligen blonden Schwester über den Teenager auf der Matratze beugte. Als Winter die Schultern zuckte, schüttelte der Arzt den Kopf und verdrückte sich auf die andere Seite des Vorhangs, damit Winter seine Arbeit machen konnte. Die Krankenschwester– Karen, laut Namensschildchen– blieb, wo sie war.
Für sein Alter war Rory McCabe ziemlich groß, aber er hatte sich noch ein bisschen Babyspeck erhalten. Ein struppiger Schopf rötliches Haar hing ihm in die Augen, und anscheinend rasierte er sich erst seit Kurzem. In Glasgow sahen die meisten Siebzehnjährigen eher nach Ende dreißig aus, doch dieses Exemplar hier bemühte sich nicht um den üblichen Harte-Jungs-Look. Mit Buckfast und Baseballschlägern hatte er bislang offensichtlich keinen Umgang gepflegt. Abgesehen von dem Baseballschläger, der sein Knie zertrümmert hatte.
Laut Narey schworen Mama und Papa, dass ihr Junge nie Probleme gemacht hatte. Viele Eltern hatten keinen blassen Schimmer von den Machenschaften ihres Nachwuchses, doch die McCabes schienen ausnahmsweise richtig zu liegen. Keine Narben, keine Tattoos, kein prolliger Haarschnitt, keine ausgeschlagenen Zähne, keine Einstichstellen. Aber ein zerschmettertes Knie, ein blau geschwollenes Kinn und ein blutiger Streifen zerfetzte Haut im Gesicht, den er sich vermutlich beim Sturz auf den Asphalt zugezogen hatte.
So weit war alles wie immer. Ein Teenager wurde windelweich geprügelt und konnte sich danach an nichts mehr erinnern. Ohne Kläger kein Richter. Die Cops schrieben brav mit, legten alles zu den Akten, und damit war die Sache erledigt. Der Nächste bitte.
Rory trug ein Krankenhaushemd, das seine Hüfte und in diesem Fall auch eine Schulter freiließ, da der eine Arm bereits verbunden und seitlich fixiert worden war. Sein linkes Bein hing in einer Schlaufe. Als Winter auftauchte, blickte er kurz auf, interessierte sich aber generell eher für den Schmerz, der aus seinem Knie schoss. Denn dieses Knie war wirklich nicht ohne. Winter war kein Experte, doch er hätte auf eine Patellaluxation plus ausgeprägtes Hämatom getippt. Oder ohne Fachchinesisch: eine kaputte Kniescheibe und eine gewaltige Schwellung. Soweit er wusste, bestand das Kniegelenk aus drei Knochen, aus der Patella und zwei anderen, die ihm im Moment nicht einfielen. In Rorys Fall waren offensichtlich alle drei im Arsch– die Haut spannte sich über sehr schiefe, sehr ungemütliche Kanten und Bögen. Da hatte jemand ganze Arbeit geleistet.
An den Seiten war das Knie bereits knallbunt angelaufen. In Kürze würde sich das Blutrot zu Violett und schließlich zu Schwarz verdunkeln. Darüber hinaus hatte sich das Knie maßlos aufgeplustert, wie ein Luftballon, der nur darauf wartete, mit einem Nadelstich zum Platzen gebracht zu werden. Bald würden die Ärzte eine Drainage legen, um den Schmerz zu lindern, aber vorher musste Winter noch seine Arbeit erledigen. Reine Routine. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand wegen Rorys Verletzungen zur Verantwortung gezogen wurde, musste es die Möglichkeit geben, das Ausmaß eben jener Verletzungen vor Gericht zu verdeutlichen, damit sich der Sheriff zwischen einem warnenden Klaps auf die Finger und einer ausführlichen Standpauke entscheiden konnte.
Das erste Foto knipste Winter ohne Vorwarnung. Der unverstellte Rory McCabe. Wieder schaute der Junge auf. Ein düsterer, trotziger, mürrischer Blick. Aber auch ein unsicherer, gekränkter, verlegener Blick.
» Okay… du bist Rory? Ich bin Tony. Ich soll ein paar Fotos von dir machen.«
» Dachte ich mir schon.«
» O Mann, wie hast du das denn angestellt?« Den Versuch war’s wert, dachte Winter. Falls der Junge sich verplapperte, könnte er bei Narey punkten.
» Weiß nicht«, keifte McCabe. » Keine Ahnung. Lassen Sie mich in Ruhe.«
Sein Mund sagte Nein, seine Augen sagten Niemals. Der Junge hatte die Hosen randvoll.
» Auch
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