Snobs: Roman (German Edition)
Bar war kaum besucht, das Restaurant noch weniger. Die leere Tanzfläche sah mit den schwarzen Spiegeln, die nichts zurückzuwerfen hatten, düster und ungemütlich aus. Charles schien zuerst verwirrt, dann verlegen. »Sie haben Recht. Es ist viel zu früh. Wahrscheinlich geht’s hier erst um zehn richtig los. Möchten Sie woandershin?«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Edith mit einem lebhaften Lächeln und rutschte auf die Bank. »Und nun sagen Sie mir doch, was ich essen soll.«
Sie hatte sich noch keine Meinung über Charles gebildet, doch eines wusste sie genau. Dieser Abend würde ein großer Erfolg werden, und wenn es sie umbrachte. Die Speisekarte bot willkommenen Anlass für ein paar Minuten Geplauder. Was Essen und Trinken anging,
war Charles ein Connaisseur und übernahm gern die Auswahl, auch wenn ihn Edith nur um seine Hilfe gebeten hatte, um wieder in die Rolle des hilflosen Weibchens, das heißt, der idealen künftigen Ehefrau zu schlüpfen. Dass er sich zu entschuldigen begann, war das Letzte, woran ihr gelegen sein konnte; so viel hatte die Erfahrung sie gelehrt. Doch nun traf er eine gute Wahl und das Essen war ausgezeichnet.
Als gut aussehend konnte man Charles Broughton eigentlich nicht bezeichnen; dafür hatte er eine zu große Nase und zu schmale Lippen. Doch im Kerzenlicht wirkte er nicht unattraktiv. Er war ausgesprochen distinguiert und sah so sehr nach englischem Gentleman aus, als hätte ihn eine Casting-Agentur geschickt. Edith fühlte sich körperlich stark von ihm angezogen, viel mehr, als sie gedacht hatte. Zu ihrer eigenen Überraschung freute sie sich schon darauf, dass er sie zum Tanzen aufforderte.
»Verbringen Sie viel Zeit in London?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Lieber Himmel, nein. So wenig wie möglich.«
»Dann sind Sie vor allem in Sussex?«
»Größtenteils. Wir haben auch noch ein Haus in Norfolk. Ab und zu muss ich dorthin.«
»Komisch. Ich hätte Sie für einen recht geselligen Menschen gehalten.«
»Mich? Sie machen wohl Witze.« Er lachte laut. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich weiß auch nicht.« Dabei wusste sie es ganz genau und wollte nur nicht zugeben, dass sie in den Gesellschaftsspalten öfter von ihm gelesen hatte. Dies alles hatte sich nach ihrem zufälligen Treffen in Ascot zum Bild eines recht amüsanten Lebens zusammengefügt. Der Eindruck hielt sich noch eine ganze Weile, bis er sich in aller Deutlichkeit als falsch herausstellen sollte.
In Wahrheit ging Charles wie die meisten Normalsterblichen zu Gesellschaften, wenn er eingeladen wurde und nichts Besseres vorhatte, doch viele Freunde besaß er nicht, schon gar nicht aus den letzten
Jahren. Er sah sich selbst ausschließlich als Landadligen, der seinem Vater bei der Verwaltung der Güter und Landsitze half, die Gott ihrer Obhut anvertraut hatte. Weder hinterfragte er seine Stellung, noch nutzte er sie aus. Dächte er jemals über Dinge wie Rang und Erbe nach, dann würde er dazu nur sagen, dass er großes Glück gehabt hätte. Und das nicht laut.
Im Gegensatz zu Ediths Annahme verfolgte er mit dem Abend im Annabel’s keine romantischen Absichten. Er führte junge Damen einfach gern in Lokale aus, wo man ihn kannte, auch wenn er sich das selbst nicht eingestand. Da bekam das Ganze ein besonderes Flair, das in einer anonymen Umgebung fehlte. Nun war er an der Reihe, mit der Konversation fortzufahren.
»Haben Sie länger auf dem Land gelebt?«
»Eigentlich nicht so lange.« Edith fand ihre Antwort selbst etwas schief, da sie niemals, keine halbe Stunde lang, auf dem Land »gelebt« hatte. Außer man rechnete die Internatszeit dazu, die natürlich nicht zählte. Dennoch gefiel es ihr auf dem Land. Sie hatte viel Zeit dort verbracht, hatte an Jagden teilgenommen, war geritten. Völlig gelogen war es also nicht. Sie bog ihre Aussage etwas ab: »Die Geschäfte meines Vaters. Sie wissen schon.«
Charles nickte. »Vermutlich kommt er ziemlich viel herum.«
Edith zuckte mit den Achseln. »Das kann man wohl sagen.«
In Wirklichkeit kam Kenneth Lavery gerade mal in London herum, seit zweiunddreißig Jahren fuhr er mit der U-Bahn zum selben Büro in der City. Einmal musste er nach New York und einmal nach Rotterdam, das war’s aber auch schon. Diese leichte Retusche der Wahrheit wurde nie berichtigt. Charles war danach immer der Meinung, Ediths Vater wäre eine Art internationaler Spitzenmanager, der zwischen Hongkong und Zürich hin- und herjettete. Doch Edith hatte Charles ganz
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