Snobs: Roman (German Edition)
Abgang zu verschaffen. Als wir in den Palast zurückkehren wollten, fanden wir die Türen verschlossen. Die Verwaltung hatte entschieden, dass der Tag vorüber wäre, und so blieb uns nichts übrig, als nach Hause zu gehen.
7
Mit das Seltsamste an dieser Eheschließung war für Edith wie für alle jene, die davon wussten, dass sie vor der Hochzeitsnacht kein einziges Mal mit Charles geschlafen hatte – man schrieb schließlich die Neunzigerjahre. Das scheint sehr ungewöhnlich, und doch war es so. Anfangs hatte Edith Charles’ Annäherungsversuchen widerstanden, weil sie wusste, dass Männer wie er am Morgen danach keinen Respekt vor der Frau haben, die am Abend zuvor leicht zu erobern war. Mehrere Verabredungen mussten stattfinden, bis sie sich hinreichend als »nettes, anständiges Mädchen« bewiesen hatte; dies zog sich über zwei, drei Monate hin. Als Edith dann zu dem Schluss kam, sie könne nun gefahrlos nachgeben, stellte sie zu ihrer Verblüffung fest, dass Charles ihr Beziehungsmuster offenbar akzeptiert hatte und darüber hinaus nichts wollte. Er küsste sie natürlich und umarmte sie, doch ohne das sonst übliche heftige Drängen. Als sie einmal in der Wohnung ihrer Eltern auf dem Sofa lagen (Kenneth und Stella waren übers Wochenende nach Bristol gefahren), streifte sie mit der Hand beiläufig über seinen Hosenschlitz, doch obwohl sie unter dem Stoff eine vollkommen zufriedenstellende Erektion spürte, zuckte er unter ihrer Berührung so heftig zusammen, dass sie dergleichen nicht wiederholte. Und nach dem Antrag schien es ihr ziemlich irrelevant. Schließlich wollte sie ihn haben, ob sie nun im Bett »harmonierten« oder nicht – und wenn sie nicht harmonierten, würde er höchstens das Interesse an ihr verlieren. Als er ein paar Wochen vor der Hochzeit vorschlug, übers Wochenende wegzufahren, hatte sie daher gemurmelt, sie wolle lieber warten, da sie nun ja so kurz davor wären, und es »nicht verderben«. Charles akzeptierte das; als Mann seiner Generation hatte er ein gewisses Maß sexueller Erfahrungen gesammelt,
doch die Überzeugung, dass eine Braut das eheliche Schlafgemach unberührt betreten sollte, war immer noch tief in ihm verwurzelt. In diesem Sinne unberührt war Edith natürlich nicht mehr; sie hatte sich für eventuelle Fragen schon den Hinweis auf einen »Vorfall« in früher Jugend zurechtgelegt, über den sie nicht reden wolle. Diese Erklärung war dann nie nötig, da Charles sich damit zufrieden gab, die Hochzeitsnacht als ihr erstes gemeinsames Mal zu erleben, und so viel Verstand besaß, nicht mit ihrer Vergangenheit konkurrieren zu wollen.
Er hatte ein Zimmer im Hyde-Park-Hotel in Knightsbridge reserviert. Bekanntlich gehört dieses Hotel heute zur Mandarin-Oriental-Gruppe, und der alte Name ist damit theoretisch hinfällig, doch in der Oberschicht ändern sich altgewohnte Bezeichnungen nur langsam. Dort wird man noch mindestens so lange vom Hyde-Park-Hotel sprechen, bis die eigenen Kinder in die Jahre kommen. Es war vorgesehen, die Hochzeitsnacht dort zu verbringen und am folgenden Tag mittags nach Rom zu fliegen. So kutschierte der Landauer sie den St. James’s Park und die Piccadilly entlang, vorbei am Ritz und an Hyde Park Corner, und wendete vor dem Bowater-House-Parkeingang, um sie vor der Eingangstreppe des Hotels abzusetzen. Auf der Fahrt drehten sich Passanten nach ihnen um, Touristen wie Einheimische, lächelten ihnen zu und winkten sogar. Wahrscheinlich ist das öffentliche Bewusstsein im pawlowschen Sinn darauf konditioniert, den Anblick von Kutschen sofort mit Ereignissen in der königlichen Familie in Verbindung zu bringen. Edith wollte die Leute nicht enttäuschen; das Hochgefühl ihrer brillanten neuen Position stieg ihr zu Kopf und breitete sich dort aus wie eine Wolke funkelnder Lichter, und so winkte sie zögernd zurück. Charles dagegen sah starr vor sich hin, als stellte jemand seine Eignung für eine Offiziersstelle in Frage. Edith begriff auch, warum. Charles teilte mit vielen Aristokraten die besonders öde Manie, so zu tun, als sei man sich seiner Privilegien nicht im Geringsten bewusst. Dieses gespielte Desinteresse, in der Theorie Ausdruck von Lässigkeit, geht einem in der Praxis fürchterlich auf die Nerven und sollte dem Paar in Zukunft noch viele Ereignisse
verderben, wie Edith beim Anblick des erstarrten Profils neben sich bald vermutete. Diesmal wenigstens dauerte die Fahrt nicht lang, für Edith nicht lang genug. Kaum fünfzehn Minuten
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