So gut wie tot
Stille. Sie trat zu dem eisernen Rad, das an der Wand angebracht war, und wickelte ein Stück des Löschschlauchs ab. Nach fünf Umdrehungen fand sie ihren Ersatzschlüssel in seinem Versteck. Sie wickelte den Schlauch wieder auf, stieß die Brandschutztür auf und betrat den Treppenabsatz.
Die Angst überfiel sie aufs Neue. Wenn er nun dort drinnen war?
Das war er natürlich nicht. Er war mit ihrer Mutter in irgendeinem Versteck. Dennoch steckte sie den Schlüssel so leise wie möglich ins Schloss und öffnete lautlos die Tür.
Schatten fielen auf sie, als sie in die Diele trat. Sie ließ die Tür angelehnt und schaltete kein Licht ein. Dann knallte sie die Tür zu, um ihn aufzuschrecken, falls er auf der Lauer lag, und öffnete sie sofort wieder. Sie knallte die Tür ein zweites Mal. Totenstille.
Sie leuchtete durch die Diele. Auf dem Boden neben dem Gästebad lag noch die Tüte mit den Utensilien, mit denen Ricky ihr gedroht hatte. Vermutlich hatte er sie den Bauarbeitern geklaut.
Sie schaltete nirgendwo Licht ein und durchsuchte die Wohnung Zimmer für Zimmer. Auf dem Couchtisch fand sie ihr Pfefferspray und steckte es in die Tasche. Dann eilte sie zur Wohnungstür und legte die Sicherheitskette vor.
Sie kippte eine Cola hinunter und verschlang einen Pfirsichjoghurt, ging ins Gästebad, schloss die Tür und schaltete das Licht ein. Hier war sie sicher, es gab kein Fenster nach draußen.
Sie öffnete die Tür des winzigen Abstellraums, in den Waschmaschine und Trockner gequetscht waren. Auf dem Regal links lag ihr eigenes Werkzeug. Sie nahm Hammer und Meißel und trat damit in die Duschkabine.
Sie warf einen letzten stolzen Blick auf die ausgezeichnete Arbeit, setzte die Kante des Meißels zwischen zwei Fliesen in halber Höhe an und schlug fest dagegen. Und noch einmal.
Nach wenigen Minuten hatte sie einige Fliesen entfernt und konnte in den Raum dahinter greifen. Erleichtert spürte sie die wasserdichte Blasenfolie, die sie sorgfältig um den Umschlag gewickelt hatte.
Der Vermieter wäre sicher nicht begeistert, wenn er die beschädigte Wand entdeckte. Hätte sie genügend Zeit gehabt, hätte sie die Fliesen wieder herrichten können, so wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte. Im Augenblick jedoch waren die Badezimmerfliesen ihr geringstes Problem.
Sie zog frische Unterwäsche an, packte zum zweiten Mal in dieser Woche den Koffer mit dem Nötigsten und suchte dann im Internet nach billigen Hotels in Brighton and Hove.
Als ihre Entscheidung gefallen war, rief sie erneut ein Taxi.
97
OKTOBER 2007 Die alte Frau stellte ein weitaus größeres Problem dar, als Ricky vermutet hatte. Er stand in der kleinen Kochnische des Holzhauses, das vom Tennisklub genutzt wurde und Toilette und Duschräume des Campingplatzes beherbergte.
Sie hockte jetzt seit einer geschlagenen Viertelstunde auf der Toilette.
Er trat aus der Tür in den strömenden Regen und spielte mit dem Gedanken, sie umzubringen. Vielleicht wäre das die einfachste Lösung. Er warf einen besorgten Blick auf den holländischen Campingwagen. Durch die geschlossenen Vorhänge drang Licht. Hoffentlich kamen die Leute nicht auf die Idee, diese Räumlichkeiten zu benutzen, während die alte Frau auf der Toilette war. Er war allerdings davon überzeugt, dass seine Drohungen auf fruchtbaren Boden gefallen waren und sie sich keine Dummheiten erlauben würde.
Wieder vergingen fünf Minuten. Er sah auf die Uhr. Halb zehn. Es war drei Stunden her, dass Abby eingehängt hatte. Drei Stunden, in denen sie genügend Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Ob sie wohl inzwischen zur Vernunft gekommen war?
Jetzt wäre ein guter Augenblick.
Ricky klappte sein Handy auf, schrieb eine SMS an Abby und hängte das Foto an, das er vorhin aufgenommen hatte und auf dem der Kopf ihrer Mutter oben aus der Teppichrolle lugte.
Der Text lautete:
Sie rollt sich vor Vergnügen.
98
OKTOBER 2007 Roy saß zusammen mit Pat und Dennis an einem Holztisch im Restaurant der riesigen Chelsea Brewing Company, die Pats Cousin gehörte. Rechts befand sich eine lange Theke, hinter der schimmernde, mannshohe Kupferkessel aufgereiht waren. Überall verliefen Röhren aus Edelstahl und Aluminium. Die riesige, peinlich saubere Anlage mit dem Holzboden hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Museum als mit einer Brauerei, in der ganz normal gearbeitet wurde.
Der Besuch war zu einem festen Ritual geworden, wann immer Roy nach New York kam. Pat war sichtlich stolz auf seinen erfolgreichen Cousin
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