So nah bei dir und doch so fern
Dieser Gedanke stimmte mich positiver.
Damals konnte ich noch nicht wissen, wie schwer es ihnen gefallen war, die Station überhaupt zu betreten. Wie meine Mutter hatten sie draußen im Wartezimmer gestanden, tief Luft geholt und all ihren Mut zusammengenommen, um das, was hinter diesen Schwingtüren auf sie wartete, zu ertragen. Alison verglich es später mit dem Gefühl einer Schauspielerin, die zum ersten Mal eine Bühne betritt. Die Türen waren für sie der Vorhang, und nachdem sie einmal ins Rampenlicht der Intensivstation getreten waren, mussten sie eine tapfere Miene aufsetzen und mit dem Schauspiel zurechtkommen.
Während die Freundinnen um das Bett herum kicherten, hatte ich das Empfinden, zum ersten Mal eine Verbindung zu jemandem zu bekommen. Es wurden keine Worte gewechselt, doch Alison beobachtete meine Augen und verfolgte meine Reaktionen.
Als ich weinte, sagte sie: »Kate, macht es dir etwas aus, wenn ich dein Gesicht abwische?« Dann beugte sie sich über mich und tupfte meine Tränen mit einem Papiertaschentuch weg. Als ich einen Krampf bekam und die Augen vor Schmerzen schloss, glaubte ich wirklich, sie spüre meine Pein. Wir hatten gegenseitig so lange und so oft im Gesichtsausdruck der anderen gelesen, dass ich sicher war, sie würde den Schwestern etwas sagen. In mir keimte neue Hoffnung auf, meine Familie und die Ärzte würden endlich begreifen, dass ich innerlich lebte.
Als meine Freundinnen gingen, schaute ich ihnen traurig nach. Sie machten sich auf zu ihrem jeweiligen Heim voller Freude und Liebe, und ich fühlte mich, als habe man mir etwas gestohlen.
»Ich komme dich am Freitag besuchen, bevor ich die Kinder von der Schule abhole«, sagte Alison beim Abschied.
Ich wusste, sie würde mich nicht im Stich lassen, und ich hoffte, mich lange genug ans Leben klammern zu können, um meine Freundinnen wiederzusehen. Nachdem sie mich verlassen hatten, gab es nur noch die Schwestern, aber keinen Blickkontakt mehr.
Einmal außerhalb der Intensivstation verloren die drei die Fassung bei dem Versuch, sich gegenseitig zu trösten und zu verstehen, wie jemandem aus ihren Reihen etwas derart Entsetzliches hatte zustoßen können, einer Frau in der Blüte ihres Lebens.
»Wie ist es nur möglich, dass jemand, der so voller Leben steckt, dermaßen außer Gefecht gesetzt wird?«, fragte Anita. »Mir will nicht in den Kopf, dass wir noch am selben Morgen, bevor das passierte, bei unserem Training so wahnsinnig gelacht haben. Das ist nicht fair.«
Nach diesem ersten Besuch wurden meine Freundinnen Dauerbesucherinnen, die jene Prise Leben in meine bedrückende Welt der Intensivstation brachten, die ich so dringend brauchte. Ich wartete sehnsüchtig auf ihre Besuche. Ihr Verhalten am Krankenbett war stets heiter und beschwingt, wovon sich die Ärzte und Schwestern eine Scheibe hätten abschneiden können. Sie bedauerten mich nie und behandelten mich auch nie von oben herab, für sie war ich immer noch Kate – ihr bester Kumpel. Sie ignorierten die lebenserhaltenden Geräte. Manchmal besuchten mich Alison und Anita zusammen, ein anderes Mal brachte Anita Jaqui mit. Sie standen neben meinem Bett, und ich schaute ihnen zu, wie sie meine Füße massierten, die einzigen Körperteile, an denen nicht irgendwelche Schläuche oder Drähte befestigt waren. Sie ließen mir Pflege und Zuwendung zukommen, wenn die Krankenschwestern gerade zu beschäftigt waren. Manchmal kam Alison alleine, setzte sich neben mein Bett und las mir Kapitel aus dem aktuellen Werk unseres Bücherclubs vor. Mit Geschichten aus ihrem hektischen Leben im Friseursalon und den chaotischen Nachtausflügen in die Stadt mit ihren befreundeten Friseusen gab sie mir neuen Mut.
»Draußen schneit es«, berichtete sie an einem Nachmittag Ende Februar. »Sollen wir dein Bett nach draußen schaffen und als Schlitten benutzen?«
Ich wurde an einen lustigen Morgen im vorigen Winter erinnert, als Alison und ich die Kinder zur Schule gebracht hatten, wo ihnen gesagt wurde, sie könnten wieder gehen. Nachts hatte es heftig geschneit, und allen Eltern, die Angst hatten, ihre Kinder könnten nicht sicher nach Hause kommen, war es freigestellt, sie früher aus dem Unterricht zu nehmen. Wären wir verantwortungsbewusste Mütter gewesen, hätten wir genau das getan. Doch die winterliche Bescherung weckte das große Kind in uns, und wir ließen die Kinder in der Schule, fuhren schnell nach Hause, gruben Harveys Schlitten aus dem Spielzeugschrank aus, zogen
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