So nah bei dir und doch so fern
nachdem ich meine Hand wieder bewegen konnte, war Don’t Leave Me This Way: Or When I Get Back On My Feet You’ll Be Sorry von Julia Fox Garrison, einer jungen amerikanischen Mutter, die ebenfalls einen schweren Schlaganfall erlitten hatte und der man prognostizierte, sie werde nie wieder laufen können. Mein Zustand glich dem ihren sowohl psychisch als auch physisch. Besonders aber konnte ich ihre Frustration nachempfinden, auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein.
Die meisten Menschen, die einen Rollstuhl sehen, denken zu Recht oder Unrecht sofort an Krankheit und Behinderung. Es beflügelt zudem die bevormundende oder gönnerhafte Ader der Menschen, die anscheinend nicht anders können, als auf einen herabzureden. Nur weil man seine Füße und Beine nicht benutzen kann, unterstellen sie, man könne auch seinen Verstand nicht einsetzen, wahrscheinlich sei man zusätzlich noch taub, und so sprechen sie bewusst laut und langsam auf einen herab und betonen jede einzelne Silbe.
Das ging mir gewaltig auf die Nerven, und so dachte ich mir: ›Wenn mich die Leute wie einen Invaliden behandeln, nutze ich das eben aus.‹ Dieses Verhalten bescherte Alison die ein oder andere Peinlichkeit, wenn sie als mein Sprachrohr agieren und Erleichterungen für Behinderte einfordern musste.
Bei einem unserer Tagesausflüge ins Meadowhall-Einkaufszentrum entdeckte ich ein Kleid, von dem ich annahm, dass es India gefallen würde. › BITTE VERKÄUFERIN ; ES FÜR MICH ZURÜCKZULEGEN ‹, blinzelte ich Alison in dem Wissen zu, es ein paar Tage später mit India, die gerade in der Schule war, abholen zu können. Alison ließ mich an der Tür zurück, weil es zu schwierig war, mit dem Rollstuhl zwischen den mit Kleidung vollgepackten Ständern hindurchzukurven, und marschierte los, um die Bitte zu äußern.
»Tut uns leid, das ist nicht üblich bei uns«, wurde ihr gesagt.
» SAG , DASS ICH IM ROLLSTUHL SITZE «, insistierte ich, als Alison unverrichteter Dinge zurückkam.
Doch ihr war es zu peinlich, die Verkäuferin noch einmal zu behelligen.
» SAG ES IHR !«, forderte ich sie mit einem meiner Killerblicke auf.
Während Alison zurückging, um mit der Frau zu reden, wartete ich. Die Verkäuferin schaute zu mir herüber, und ich setzte die Mitleid erregendste Miene auf, die meine schlaffen Gesichtsmuskeln erlaubten. Es half. Resultat 1:0 für die Dame im Invaliden-Streitwagen.
Ein anderes Mal war Alison überzeugt, man würde uns lynchen, wenn ich sie zwang, mich bei Primark an der langen Schlange vorbei direkt zur Kasse zu schieben. Doch niemand wagte es, sich zu beschweren, denn das wäre ja nicht politisch korrekt gewesen.
Inzwischen hatten mir meine Freundinnen den Spitznamen »Andy« verpasst, in Anlehnung an den behinderten Komiker in der TV -Serie Little Britain , der regelmäßig ausbüchst und hinter dem Rücken seines Pflegers ganz normal herumläuft. Das brachte mich zum Lachen, da es genau das war, was ich an seiner Stelle tun würde, und nachdem ich jetzt das Gehen lernte, dachte ich mir, könne ich schon bald seinem Beispiel folgen.
Indem ich die Computer-Maus und die Tastatur benutzte, um mich in meinen Facebook-Account einzuloggen, stellte sich die Koordination in meiner rechten Hand wieder ein. Meine Finger waren imstande, die Maus zu umfassen und auf dem Pult zu bewegen, und mit ein bisschen Anstrengung brachte ich gerade genug Kraft auf, um die Tasten zu drücken. Außerdem war ich in der Lage, die Finger der rechten Hand so weit zu spreizen, dass ich die Tastatur erreichte. Die Freiheit, Mitteilungen zu schreiben, beflügelte meine mentale Gesundheit. Die Kommunikationstafel hatte durchaus ihren Nutzen, aber ich war ungeduldig. Warten zu müssen, bis der jeweils richtige Buchstabe erraten war, kostete unnötig Zeit. Mit einem Computer-Bildschirm konnte ich meine Wünsche hingegen sofort äußern.
Wenige Tage nach meinen ersten Schritten postete ich auf Facebook:
Ich habe es geschafft, in einem Gehapparat zu gehen. Danach war ich so fertig, dass ich ohnmächtig geworden bin. Pst! Nicht meiner Physiotherapeutin erzählen.
Während ich meine Therapie vorantrieb, wurde mir bewusst, dass ich Überanstrengungen vor dem Pflegepersonal und den Therapeuten verbergen musste. Wenige Schritte zu machen war bereits ermüdender als ein Marathonlauf. Die Therapeuten hatten sich an ihre Regeln zu halten, entwickelt in jahrelanger Forschung und Erfahrung mit anderen Patienten mit Kopfverletzungen. Ich dagegen hatte den
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