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So nah bei dir und doch so fern

So nah bei dir und doch so fern

Titel: So nah bei dir und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Allatt
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seinem Hafturlaub entgegenfiebert, malte ich mir einen Kalender in meinem Kopf und strich alle vierundzwanzig Stunden und nach jeder neuen Übung, die ich bewältigt hatte, einen Tag aus.
    Wie meine Mutter mir immer wieder einbläute, entwickeln sich neue Nervenbahnen im Gehirn, sobald man neue Bewegungen dazulernt, deren Verbindungen auf Dauer bestehen bleiben. Obwohl meine Fortschritte anfangs sehr klein ausfielen, fühlte ich mich durch jede neue Regung ermutigt. In unserem Körper gibt es hunderte Muskeln, die unsere Bewegungen kontrollieren, und ich musste jeden einzelnen erneut in den Griff bekommen. Dennoch wurde ich mit jedem Tag kräftiger und lernte etwas hinzu, und wenn ich eine neue Übung machen sollte, dann trainierte, trainierte und trainierte ich, bis ich sie beherrschte.
    Im Laufe der Wochen begannen meine Freundinnen und die Familie gewaltige Sprünge in meinem Genesungsprozess zu sehen. Alison sagte mir ständig, mein alter Schwung sei wieder da. Der Kampfgeist war aktiviert, und ich setzte ihn für weitere Fortschritte ein.
    Meine Mutter erinnerte sich später, wie überrascht sie war, als sie mich nach ihrer Amerikareise besuchte. Bei ihrer Abfahrt hatte ich noch im Bereich mit der höchsten Pflegestufe direkt neben dem Schwesternzimmer gelegen und mich kaum bewegt. Setzte man mich in den Rollstuhl, musste ich immer festgebunden werden, und mein Mienenspiel war begrenzt. Als sie mich das nächste Mal sah, war ich in einen anderen Raum mit Fenster umgezogen, sodass ich auf Bäume und Vögel schauen konnte. Ich hielt mich aus eigener Kraft in einer sitzenden Position, und ich konnte lächeln. Es war ein Lächeln mit offenem Mund, ein breites Grinsen, doch es zeigte, dass ich meine Gesichtsmuskeln zumindest zum Teil kontrollierte. Das Wackeln mit der Zunge und die Übung mit dem Tischtennisball zeigten ihre Wirkung.
    Allerdings lechzte ich immer noch nach meinem Earl Grey Tee, doch bevor man mir das Trinken erlauben durfte, musste ich einen Videofluoroskopie-Test über mich ergehen lassen, der darüber entscheiden sollte, ob ich ohne zu würgen schlucken konnte.
    Um mich auf den Test vorzubereiten, stellte mir Sophie, die Logopädin, eine Reihe von Übungsaufgaben, durch die mein Schluckvermögen verbessert werden sollte. Ich saß aufrecht im Rollstuhl, und meine Betreuerin brachte einen halb vollen Becher Eis und einen Teelöffel aus der Küche. Der Teelöffel wurde mir in den Mund gesteckt, als würde man ein Baby füttern, und die Kälte des Löffels sollte meine Schluckreflexe auslösen. Ich konnte das eisige Metall auf meiner Zunge spüren, als der Löffel darauf drückte. Er war vollkommen trocken, um zu verhindern, dass irgendeine unerwünschte Feuchtigkeit in die Lunge gelangte, doch manchmal stellte ich mir vor, auf dem Löffel befände sich der Bissen eines knusprigen Brathähnchens – meine Leibspeise –, und schloss den Mund darum.
    Zweck dieser Übung war es, mich dazu zu bringen, meine Lippen um den Löffel zu legen, sodass derjenige, der den Löffel hielt, ihn rausziehen konnte. Manchmal führte das Therapie-Team die Übung aus, doch Mark, Alison und Anita beherrschten sie bald ebenfalls und machten sie während der Besuchszeit mit mir.
    Anfangs verlief das Ganze eher holprig, da der fremde Gegenstand in meinem Mund dazu führte, dass ich meine Lippen schloss wie ein Hund um einen Knochen und sich meine Betreuerin abmühen musste, um den Löffel wieder herauszubekommen. Nach einigen Tagen hatte ich mich schließlich an das Gefühl des Bestecks auf der Zunge gewöhnt und entwickelte Übung darin, meine Lippen nur um den Löffel zu schließen und den Speichel zu schlucken, den ich produzierte.
    Als die Beweglichkeit meiner rechten Seite zunahm, konnte ich eine weitergehende Version dieser Übung trainieren, bei der ich mir selbst Wasser zuführen durfte, während ich im Rollstuhl saß. Wieder begann es mühsam, und einiges ging daneben, wenn ich meinen Mund verfehlte, bis mir endlich fünfmal täglich zehn halbe Teelöffel kaltes Wasser zugestanden wurden.
    Als der Tag meiner ersten Videofluoroskopie gekommen war, wurde ich nach unten in die Röntgenabteilung geschoben und musste eine dickflüssige Barium-Mischung trinken. Mein Rollstuhl stand vor einer Kamera, und ich wartete ab, während das Gerät vor meinem Hals auf- und niederfuhr und meine Speiseröhre fotografierte, durch die die Mischung in meinen Magen floss. Nachdem alles vorüber war, brachte meine Logopädin das Ergebnis.

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