So nah bei dir und doch so fern
gelang mir, einen ganzen Tag in dem Gefährt zu sitzen, ohne dass ich mich müde fühlte oder es unbequem wurde. All dies, so dachte ich, müsste reichen, um in ein paar Wochen Ferien in Cornwall machen zu dürfen.
KAPITEL 31
»Sag meinen Namen, Mama«
W ährend der ersten fünf Monate, die ich im Krankenhaus verbrachte, hatte Mark Schwierigkeiten, mit der Prognose klarzukommen, dass ich nie mehr würde gehen oder sprechen können. Es gelang ihm nicht, sich seinen eigenen Verwandten gegenüber zu öffnen, und er fand auch keine Gelegenheit, seine Bürde bei Arbeitskollegen oder flüchtigen Bekanntschaften abzuladen. Wenn die Leute ihn fragten, wie es mir ging, was häufig geschah, antwortete er mit einem unverbindlichen: »Den Umständen entsprechend.«
Meine Logopädin hatte ihm gesagt, ich würde nie mehr sprechen. Selbst nachdem der Trachi entfernt worden war, gelang es mir nicht, die erforderliche Luft für meinen Kehlkopf einzuatmen, um meine Stimmbänder zu aktivieren. Ich versuchte erst gar nicht, Worte zu bilden. Aus Erfahrung deutete die Logopädin dies als Zeichen dafür, dass ich nie mehr würde sprechen können. Daher konzentrierte sich die Therapie auf Übungen, die mir zumindest helfen sollten, die Schluckfähigkeit wiederzuerlangen, mit dem Fernziel, irgendwann essen zu können.
Während Mark die Fortschritte bei der Beweglichkeit und der Muskelkraft beobachten konnte, akzeptierte er das Urteil der Therapeutin – »Kate wird nie mehr sprechen können« –, auch wenn er es nicht über sich brachte, es anderen zu erzählen. Eines Abends aber, als er mit einigen seiner Mountainbike-Freunde unterwegs war, wurde er gezwungen, die schlechte Nachricht zu verkünden. Er hatte den anderen erzählt, wie selbstständig ich geworden war, dass ich schreiben konnte und mit meinem elektrischen Rollstuhl auf der Station herumdüste. Einer der Freunde meinte, es wäre toll, sich mal mit mir zu unterhalten.
»Kate wird nie wieder sprechen können«, sagte Mark. Er konnte sehen, wie die Information den Freund schockierte. Für Marks Heilungsprozess war dies ein wichtiger Moment, denn endlich musste er sich dem Unabänderlichen stellen. Es lässt sich denken, wie verblüfft er war, als ich ihn und die Logopädin gerade mal achtundvierzig Stunden später eines Besseren belehrte.
Es war ein Freitagabend, als ich meine ersten Wörter sprach. Mark hatte die Kinder ins Krankenhaus mitgebracht, um mich zu besuchen, und sie waren alle bester Laune, weil sie wie ich die Tage bis zum Urlaub hinunterzählten. Noch sieben Mal schlafen, dann ging es auf die Reise; sie hatten schon Hummeln im Hintern.
Ich wollte Woody fragen, ob er bei der Klavierstunde gewesen war. India hielt die Kommunikationstafel, und ich begann, Woodys Namen zu buchstabieren. Harvey notierte die Buchstaben. Die ganze Prozedur dauerte zehn Mal so lange wie eigentlich nötig, denn die Kinder waren an diesem Abend besonders aufgeregt und hatten keine Geduld für langwieriges Buchstabieren. Plötzlich schaute Woody mich an und fragte: »Warum sagst du es nicht einfach?«
Ich war überzeugt, es nicht zu können. Bis zu diesem Moment hatte ich nur tierähnliche Geräusche von mir gegeben, nichts, das wie ein Wort klang oder irgendeinen Sinn ergeben hätte. Doch ich liebe Herausforderungen, und Woody hatte mir eine geliefert. Ich dachte an die Mundübungen, die ich gemacht hatte, und bemühte mich, den Mund so zu formen, dass ich ein Wort bilden konnte.
»Uff«, sagte ich. Es klang wirklich nicht wie Woody.
Ich versuchte es erneut: »Ood.« Ich grunzte immer noch wie ein Schwein mit Verstopfung.
Gib dein Bestes, Kate!, spornte mich die Stimme in meinem Kopf an.
»Oody«, sagte ich und spürte, wie sich die Zunge im Mund verformte.
Mark, der sich aus lauter Langeweile dem Fernsehprogramm zugewandt hatte, drehte sich perplex zu mir um.
»Kate, hast du gerade ›Woody‹ gesagt?«, fragte er.
Ich grinste süffisant und wiederholte ein ums andere Mal: »Oody, oody, oody.«
Wie bei einem Baby, das gerade sprechen lernt, waren die Wörter nur für die erkennbar, die wussten, was ich sagen wollte, doch es waren Wörter, und das bewies, dass ich genügend Luft in den Kehlkopf einatmen konnte, um sie zu bilden. Nach Woodys Namen versuchte ich es mit dem von India, was zu »Indi« wurde, und mit Harveys Namen, den ich zu »Avvy« formte.
Mark geriet völlig aus dem Häuschen, da er nun alles zurücknehmen konnte, was er gesagt hatte. Ich war wieder in der
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