So nah bei dir und doch so fern
Lage, zu sprechen. Das ganze Wochenende über übte und übte ich, indem ich ein oder zwei Silben aneinanderreihte, um Wörter zu bilden. Als mein diensthabender Lieblingspfleger am folgenden Montagmorgen erschien, um mir die übliche Medizin zu geben, sagte ich: »Morgen, Oliver.«
Er blieb wie angewurzelt stehen. »Haben Sie etwas gesagt?«, fragte er und konnte kaum glauben, was er da eben gehört hatte.
»Morgen, Oliver«, wiederholte ich, dieses Mal langsamer und betonter. Er verlor die Fassung und begann zu weinen. »Für Augenblicke wie diesen bin ich Pfleger geworden«, schluchzte er.
Du Weichei, dachte ich, du solltest lieber froh sein, statt hier rumzuflennen.
Minuten später kam meine Logopädin Sophie hereingerauscht, um zu sehen, weshalb Oliver so ein Theater machte.
»Morgen, Soph«, sagte ich. Auch sie begann zu weinen, total überrascht und gleichzeitig glücklich, dass sie sich geirrt hatte.
Ab diesem Tag gewann meine Sprechtherapie eine völlig neue Bedeutung. Sophie steigerte das Training. Zusätzlich zu den Schluckübungen gab es ein neues Programm sprechmotorischer Übungen, die darauf abzielten, meine Lippen zu kräftigen und die Muskeln im hinteren Bereich meiner Zunge zu entwickeln, damit ich Wörter bilden konnte.
Nach und nach begann ich mit monotoner Stimme zu reden, die Mark später als »Schlaganfall-Stimme« bezeichnete. Die ursprünglich freudige Überraschung angesichts der ersten gesprochenen Wörter legte sich bald, als ich das Sprechen immer mehr beherrschte. Denn jetzt konnte ich Mark nämlich sowohl mit strengem Anstarren als auch mit harten Worten herumkommandieren.
KAPITEL 32
Lasst mich nicht noch einmal im Stich
Z u sagen, ich habe meinem ersten Urlaub in Cornwall entgegengefiebert, wäre stark untertrieben. Ich war wie ein Kind vor Weihnachten und zählte die Tage bis zum großen Ereignis. Nach der Enttäuschung, an meinem Geburtstag im Krankenhaus bleiben zu müssen, setzte ich alles daran, dieses Mal fit genug zu sein.
In der Physiotherapie hatte ich besonders hart gearbeitet, die Grenzen verschoben und mich ausgepowert, hatte meine Therapeuten angetrieben, immer noch eins draufzusetzen. Doch je näher der Tag rückte, desto klarer wurde, dass man mir nicht erlauben würde, die fünfhundert Kilometer lange Reise anzutreten. Ich hatte Ausflüge von acht oder neun Stunden überstanden, doch für eine Übernachtung bei uns zu Hause war ich noch nicht gerüstet. Mein Betreuerteam entschied, die Reise sei zu weit und auch zu lang.
Ich war am Boden zerstört. Als die Abreise kurz bevorstand, hoffte ich immer noch, das Betreuerteam würde es sich anders überlegen oder Mark würde seine Pläne umwerfen und zu Hause bleiben. An den Wochenenden verbrachte ich mehr und mehr Zeit mit Mark und den Kindern und freute mich darauf, bald wieder mit ihnen als Familie zusammen zu sein.
Der Urlaub wurde wie geplant durchgezogen. Ich war stocksauer. Nicht nur, weil sich mein eigener Wunsch nicht erfüllt hatte, sondern auch, weil ich mich fragte, ob es so weit weg sein musste. Konnte man die Anzahlung für den Wohnwagen nicht einfach vergessen? Ich wusste, dass sich die Kinder auf die Sommerferien mit Alisons Familie und den Manions freuten, doch ich brauchte sie dringender.
»Bitte, bleibt zu Hause«, bettelte ich. »Wir können später etwas als Familie arrangieren.« Doch Mark ging nicht auf mich ein. Und das verletzte mich stärker als alles andere. Es führte auch zu Spannungen zwischen Mark und meiner Mutter und Dave. Die beiden sahen, wie wütend und depressiv ich wurde, und sie hatten die Befürchtung, die ganze erfolgreiche Arbeit, die ich in meine Therapie gesteckt hatte, könnte zunichtegemacht werden. Sie und Dave schlugen vor, Mark solle den Urlaub in Cornwall abblasen und in der Nähe von Dore bleiben, sodass wir gemeinsame Tagesausflüge unternehmen konnten.
Doch sie fuhren, Ende der Geschichte.
Ich war dermaßen übel gelaunt, dass ich auf Facebook schrieb:
Sie sind abgehauen. Ich weiß, dass sie ihren Urlaub brauchen, aber wofür dann all meine Anstrengungen? Ich habe das Vertrauen und die Kontrolle über mein Leben und meine Familie verloren.
Wie während des letzten Urlaubs hielten Mark und die Kinder mich mit E-Mails und Telefonanrufen auf dem Laufenden, doch es machte mich nur noch wütender, ihre Stimmen zu hören. Nachdem sie gefahren waren, verkroch ich mich ein paar Tage lang in mein Schneckenhaus. In der Therapie gab ich mir keine Mühe mehr, mir
Weitere Kostenlose Bücher