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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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keinen Fall. Fesselnd. »Die Abwesenheit von Politik gilt ja quasi als Errungenschaft
     dieses Parlaments«, sagt Silvana Koch-Mehrin. »Man muss sich schon entscheiden: Will man eine Harmonieveranstaltung sein oder
     eine streitbare Versammlung?« Koch-Mehrin sucht das Rampenlicht deswegen vor allem abseits des Plenums. In Fotoateliers von
     Hochglanzzeitschriften oder in Berliner Talkrunden. Ihre Pressemitteilungen haben eine andere Schlagrichtung als die ihrer
     Kollegen. Um überhaupt eine Chance auf Schlagzeilen zu ergattern, hat Koch-Mehrin es sich angewöhnt, statt Brüsseler Abgeordnete
     lieber Minister daheim in der Hauptstadt anzugreifen. Tragen sie bei E U-Treffen Entscheidungen mit, die ihr nicht gefallen, prangert die Liberale sie dafür in der Heimat an. Genau diese Funktion, die Vermittlung
     von Europapolitik in die Nationen hinein, könnte das EP viel stärker betreiben. Koch-Mehrin allerdings wird für genau dieses
     Abweichen vom Usus von vielen Kollegen angefeindet. Am entgegengesetzten Ende des Parteispektrums fühlte Sahra Wagenknecht
     einen ähnlichen Frust wie Koch-Mehrin.Die Ikone der deutschen Linken war von 2004 bis 2009 als Europaabgeordnete in Brüssel zwischengeparkt. Ihre Bilanz dieser
     Jahre klingt, als ziehe sie Gräten aus der Erinnerung. »Im Bundestag haben wir als Linkspartei ja immerhin noch die Möglichkeit,
     Themen an die Öffentlichkeit zu ziehen und damit andere Parteien unter Druck zu setzen. Hier hingegen arbeitet man wie unter
     einer Glocke.«
    Europa ist eine undankbare Arbeitgeberin für politisches Personal. Zum einen sind im Vergleich zu den Heerscharen der nationalen
     Parlamente E U-Abgeordnete ihrer Zahl nach eine homöopathische Dosis. Es gibt gut sechsmal weniger deutsche Europaparlamentarier als Bundestagsabgeordnete.
     In Wahlkampfzeiten lässt sich mit dieser dünnen Personaldecke kaum die Hoheit über die Marktplätze erringen. Zum anderen eröffnet
     auch ein Erfolg bei der Europawahl keine Aussicht auf ein Regierungsamt. Karrierefördernder ist ein herausragendes Abschneiden
     bei der Bundestagswahl. Auch aus diesem Grund kühlen Parteizentralen und Medien die Europawahl regelmäßig noch immer zum »Bun destagsvorwahlkampfevent « oder zur »Testwahl« herunter. Nach fünf Jahren verabschiedete sich Sahra Wagenknecht mit spürbarer Erleichterung aus dem
     Brüsseler Teflonparlament. Aufgefallen sei ihr Auslandsaufenthalt daheim in Berlin kaum jemandem, sagt sie. »Die Leute auf
     der Straße gingen oft davon aus, ich sei im Bundestag.«

Wanderzirkus Brüssel   – Straßburg
    Die einzige Angst der Gallier ist bekanntlich, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Genau dies passierte eines denkwürdigen
     Tages in Straßburg. Im Plenarsaal des Europaparlaments brach ein Teil der Deckenkonstruktion ein, und die Trümmer prasselten
     herab auf die Sitze der Abgeordneten. Glücklicherweise geschah das Ganze während der Sommerpause, niemand kam zu Schaden.
     Niemand? Nun ja, fast niemand. Denn das Malheur lenkte die Aufmerksamkeit manches Untertanen kurzzeitig auf den größeren europäischen
     Dachschaden, der hinter dem Tagungsort Straßburg steckt – und für den heute allen voran die französische Regierung die Verantwortung
     trägt.
    Das Straßburger Plenargebäude bildet einen vollkommen überflüssigen Zweitsitz für das Europäische Parlament. Alle drei Wochen
     ziehen die Abgeordneten samt Mitarbeitern und Dolmetschern von Brüssel aus wie ein riesiger Wanderzirkus für eine Sitzungswoche
     ins Elsass. Eine Kolonne von Lastwagen lädt Hunderte Hartplastikkoffer im Format von Munitionskisten mit Akten ein und fährt
     sie 430   Kilometer weit über die Ardennen ins Nachbarland. Die Parlamentarier selbst kommen per Auto oder in Sonderzügen nach.
    Der amtlichen Legende nach soll die Regelung, das Parlament an zwei Standorten dies- und jenseits des Rheins tagen zu lassen,
     der Versöhnung Europas dienen. Das ist Mumpitz. Was die Pendelei in Wahrheit demonstriert, ist die anhaltende Unversöhnlichkeit
     der französischen Regierung mit dem Gedanken, auf eine Spesenschleuder zu verzichten, die Straßburgs Hotel-, Gastronomie-
     und Taxigewerbe astronomische Umsätze garantiert. Auch den Abgeordneten selbst kommen die regelmäßigen Reisen finanziell zugute.
     Sie bringen ihnen und ihren Assistenten bis zu 12.000   Euro Sitzungspauschalen pro Jahr. Unter den Büromitarbeitern gilt eine »Straßburg-Woche« mitunter als Belohnung für gute

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