So nicht, Europa!
Dienste.
Die europäischen Steuerzahler kostet dieser ganze Irrwitz schätzungsweise 250 Millionen Euro pro Jahr.
Trotz mancher Initiative aus den eigenen Reihen findet sich unter den Parlamentariern bis heute keine Mehrheit, die gegen
diesen Skandal aufbegehrt. Immer wieder erheben sich einzelne Abgeordnete, etwa der deutsche Liberale Alexander Alvaro, um
gegen die Absurdität zu protestieren. Sie rechnen vor, dass dieUmzüge pro Jahr einen CO 2 -Ausstoß von 18.900 Tonnen mit sich bringen – so viel wie 13.000 Transatlantikflüge. Sie schlagen vor, das Parlamentsgebäude umzuwidmen in eine europäische Exzellenz-Uni (»Sciencebourg«),
und sie machen Vorschläge, wie Frankreich und Straßburg für den Verlust des Parlaments entschädigt werden könnte. Der deutsche
liberale E P-Abgeordnete Wolf Klinz schrieb Nicolas Sarkozy einen Brief mit der Idee, »in den Räumen des Europäischen Parlaments eine
Diplomatenschule der Europäischen Union
einzurichten, in der der diplomatische Nachwuchs aller Mitgliedstaaten etwa sechs Monate seiner gesamten Ausbildungszeit zubringt,
um sich speziell mit Fragen der EU zu beschäftigen. Die angehenden Diplomaten der E U-Mit gliedstaaten würden lernen, in Fragen der EU zunehmend mit einer Stimme zu sprechen. Die persönlichen Beziehungen, die sich während der
gemeinsamen Ausbildungszeit in Straßburg ganz natürlich entwickeln, wären eine ausgezeichnete Basis für die vertrauensvolle
Zusammenarbeit der europäischen Diplomaten im Laufe ihrer Karriere.«
Doch der Élysée-Palast schweigt zu all dem. Und nicht nur er. Auch die meisten Abgeordneten möchten mit dem leidigen Thema
nicht behelligt werden. Gerade einmal dreihundert der 736 E U-Parlamentarier unterstützten bis zum Herbst 2009 die Kampagne
www.oneseat.eu
, die sich seit langem für einen einzigen Parlamentssitz in Brüssel stark macht. 38 Als Ausrede führen die Nicht-Unterzeichner gerne an, dass die beiden Standorte des Parlaments von den E U-Regierungen festgelegt worden seien, das Parlament mithin keine Zuständigkeit besäße, etwas daran zu ändern. Juristisch stimmt das zwar.
Allerdings stünde kein anderes E U-Organ so in der politischen Verantwortung wie das EP, ein Umdenken in den Hauptstädten der EU in Gang zu setzen. Doch statt Kampfeslust
dominiert Indifferenz.
Der 2009 gewählte Präsident des EP, der Pole Jerzy Buzek, erklärte sich gar zu einem leidenschaftlichen Anhänger des Doppelsitzes.
Die Lage an der deutsch-französischen Grenze mache Straßburg zu einer Europäischen Union im Miniaturformat, zu einer »symbolischen
Stadt« und zu einem Hort europäischer Integration, fand er. Buzek gab zwar zu, dass diese Sicht »bestimmt nicht von vielen«
seiner Kollegen geteilt werde – aber das scheint ihn nicht zu stören. Eben so wenig beeindruckt den höchsten Repräsentanten
der europäischen Bevölkerung offenkundig dieTatsache, dass bis 2007 über eine Million Europäer per Online-Abstimmung die Abschaffung des Straßburger Zweitwohnsitzes forderten. 39 Bei jeder Gelegenheit betonen Buzek und seine Kollegen, wie wichtig ihnen ein »Europa der Bürger« sei. Melden diese Bürger
sich einmal zu Wort, stellen sie sich taub.
Umso engagierter zeigt sich das Europaparlament, wenn es darum geht, politische Missstände jenseits seines Einflussbereiches
anzuprangern. Viele Mitglieder des Europäischen Parlaments müssen unter einem dauernden Energieüberschuss leiden. Anders ist
die Flucht in eine NGO-artige Awareness-Politik schwerlich zu erklären, die sie betreiben. Mit großer Leidenschaft ergehen
sich zahlreiche Abgeordnete in Resolutionitis, im Beschließen und Schlussfolgern, im Entschließen und Anregen. In der Legislaturperiode
2004 bis 2009 verabschiedete das Plenum sage und schreibe 660 Initiativberichte und 593 Resolutionen, in denen es, wie es offiziell heißt, »nicht verbindliche Meinungen abgab über Angelegenheiten, die es für wichtig
erachtete«. Von den insgesamt 2924 Texten, die das Parlament innerhalb dieser fünf Jahre veröffentlichte, hatten nur 1355 legislativen Charakter. 40 In den unverbindlichen Resolutionen kann es um »neue Herausforderungen für den Zirkus als Teil der europäischen Kultur« gehen,
um die »Situation der Bären in China«, um die »Lage in Ostjerusalem« oder um faire Zugangschancen von Männern und Frauen zu
Jobs in der Darstellenden Kunst (welchselbige etwa dadurch erreicht werden
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