So unerreichbar nah
würden. Und diesmal war kein
Lucas da, der mich tröstete und mir versicherte, dass alles gut werden würde. Ich
sehnte mich so nach ihm, dass es körperlich wehtat. Gegen morgen fiel ich in
einen unruhigen Schlaf und träumte, ich säße in einem dunklen schwarzen Loch,
riefe mir die Seele aus dem Leib und keiner hörte mich. Plötzlich durchdrang
ein Klingeln die Dunkelheit. Ich versuchte, das Geräusch zu orten und wachte
auf. Benommen lag ich auf meinem Bett. Tageslicht drang bereits durch die Rollladenritzen
herein.
Das Klingeln
kam von meinem Festnetz-Telefon. Müde schloss ich die Augen wieder. Das war
bestimmt Paul, der immer noch nicht aufgegeben hatte. Sollte er doch mit meinem
Anrufbeantworter sprechen. Wenn es nach mir ging, würde dies in Zukunft für ihn
ohnehin die einzige Möglichkeit darstellen, meine Stimme zu hören.
Unwillkürlich
lauschte ich, als meine Ansage, in der ich die Anrufer fröhlich aufforderte,
mir eine Nachricht auf Band zu hinterlassen, zu Ende war. Es war nicht Pauls
Stimme, die mich um Rückruf bat.
»Hallo
Tessa-Schätzchen. Ich wollte mich erkundigen, wie es dir heute geht. Armin und
ich sind gerade auf dem Weg vom Flughafen nach Dachau. Wir werden die kommenden
Monate wieder in Deutschland verbringen. Tessa, bitte ruf uns an.«
Elsa! Meine
zweite Mama, wie ich sie liebevoll getauft hatte. Sie hatte mich nach meinem
Unfall beinahe jeden Tag aus Spanien angerufen, um zu hören, wie es mir ging.
Eigentlich verbrachten sie und Armin den gesamten Winter in der Sonne und kamen
normalerweise erst im April oder Mai nach München. Ich war mir sicher, dass die
beiden nur wegen mir diesmal sehr viel früher zurückkehrten. Trotzdem ich mich
schlagkaputt und nach der halb durchweinten Nacht total fertig fühlte, keimte
ein leiser Hauch von Freude in mir auf. Es gab doch Menschen, denen ich nicht
egal war. Ich war nicht mutterseelenallein.
Elsa hatte
ein Herz aus Gold. Sie war tatkräftig, selbstlos, hilfsbereit und liebevoll.
Schon als meine Mutter krank wurde, hatte sie sich rührend um uns beide
gekümmert. Als ich zur Vollwaise wurde und in ihr Haus übersiedelte, hatte sie
ihr Gästezimmer so hergerichtet, dass ich meine eigenen Möbel mitnehmen konnte
und der Raum beinahe genau so aussah wie mein eigenes Reich in meinem
Elternhaus. Wie oft hatte sie mich nach dem Tod meiner Mutter in ihre weiche
Umarmung gezogen, mir erklärt, ich solle meine Trauer rauslassen und meine
Weinkrämpfe durch sanftes Rückenstreicheln und Trostworte erleichtert? Auch
jetzt fühlte ich mich von dem Wissen, dass sie in der Nähe war und sich um mich
sorgte, getröstet.
Nachdem ich
mich aus dem Bett gequält hatte, es zum allerersten Mal seit meiner Operation
schaffte, wieder selbstständig zu duschen und mich anzuziehen - auch wenn es
unendlich viel Zeit kostete - schaltete ich meine Kaffeemaschine an und wählte
Elsas Nummer.
REVENGE IS SWEET
»Siehst du,
das klappt doch jeden Tag besser,« freute sich Elsa, die im Nymphenburger Park
mit mir spazieren ging. Noch war es winterlich kahl, aber die Luft wurde milder,
die Vögel zwitscherten über uns und kleine grüne Spitzen an den unbelaubten Sträuchern
und Bäumen kündigten den Frühling an.
Spazierengehen
war zu viel gesagt. Ich humpelte immer noch in Schneckengeschwindigkeit durch
die Gegend und mein rechtes Bein ermüdete rasch. Aber dank Elsa übte ich
täglich. Seit vier Tagen umsorgte sie mich, kam täglich von Dachau zu mir
gefahren, half mir im Haushalt, kaufte ein und ging mit mir spazieren. Und zum
ersten Mal wurde mir bewusst, wie sehr Lisa ihr ähnelte. Elsa war eine etwas
molligere, ältere Ausgabe ihrer Tochter. Wenn sie irgendetwas in einem ganz
bestimmten Tonfall sagte oder beim Zuhören ihren Kopf auf die rechte Schulter
neigte, meinte ich, meine Freundin vor mir zu haben. Ich hatte wieder einmal
Gewissensbisse, weil ich während meiner Rekonvaleszenz so vielen Leuten Arbeit
machte und deren Zeit beanspruchte. Aber diese Spaziergänge an der frischen
Luft munterten mich enorm auf und allein hätte ich mich noch nicht getraut,
weitere Strecken zu gehen.
Ein weiterer
Vorteil von Elsas Anwesenheit - zumindest für meinen inneren Frieden - bestand
darin, dass ich Lisa und Lucas nicht mehr in meiner Wohnung
"ertragen" musste. Meine ungewohnten Gefühlsschwankungen - Elsa
kannte mich normalerweise als sehr ausgeglichene Person - schob ich ihr
gegenüber auf die kürzliche Trennung von Paul sowie meinen Unfall und
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