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netterweise die Adresse eines Komponisten mitteilen könnte. Ich sog mir eine Geschichte über einen potentiellen Kunden aus den Fingern, über den wir vermehrt Clippings gefunden hatten und an den wir uns nun mit einem Angebot wenden wollten. Da so etwas nicht gerade unüblich war, gab sich der gutgläubige Kai sofort auskunftsfreudig und nannte mir die Privatadresse von Jamie Baker, der in den vergangenen sechs Jahren neun Songs hatte eintragen lassen; fünf davon über eine Agentur im Londoner Zentrum und die restlichen auf eine Adresse in Notting Hill. Ich hatte Jamie also gefunden – und ich würde ihm hoffentlich eine erfreuliche Überraschung bereiten.
Hoffentlich!
Nun machte ich mich nervös auf den Weg zu dem Gate, vor dem der Billigflieger geparkt hatte.
In der Maschine war es so hell wie in einem Operationssaal und so eng, dass ich mit meinen Knien in normaler Sitzposition an die Rückenlehne meines Vordermanns stieß. Ich verdrehte und verknotete meine Beine, bis ich halbwegs bequem sitzen konnte, und lehnte mich zurück. Der Flug würde an die eineinhalb Stunden dauern, Zeit, in der ich mir noch viele, viele Gedanken darüber machen konnte, was alles schief gehen könnte. Doch noch während die Kabinentüren geschlossen wurden und die Stewards und Stewardessen sämtlicher Ostblock-Nationalitäten gemächlich durch die Kabine schlenderten, um zu überprüfen, ob alle Gäste angeschnallt waren, schlossen sich meine Augen eigenwillig. Die Müdigkeit – die vermutlich nicht nur vom frühen Aufstehen herrührte, sondern auch von den Bachblütentropfen, die ich gegen mein Herzrasen genommen hatte – überlagerte meine Aufregung und bescherte mir einen tiefen, traumlosen Schlaf, der sich selbst von einigen Turbulenzen über der Nordsee nicht durchbrechen ließ.
Ich war bereits zwei Mal in London gewesen, jeweils für ein Wochenende, gemeinsam mit Isa. Damals hatten wir die riesige Stadt als Wagnis verstanden, in das wir uns aufgeregt gestürzt hatten. Jetzt stand ich jedoch allein in der riesigen Bahnhofshalle der LiverpoolStreet Station, an mir strömten geschäftige Massen vorbei und ich fühlte mich wie in einem menschlichen Ameisennest. Wohin wollten die bloß alle? Ich dachte an Hamburg, wo an einem Samstagmorgen eher verhaltene Betriebsamkeit herrschte. Während in meiner Heimat nur ein paar heimkehrende Diskogänger und Arbeiter durch den Bahnhof schlurften, kam das Aufkommen hier nahezu dem eines verkaufsoffenen Sonntags zur Nachmittagszeit gleich. Dabei war es erst kurz nach acht! Trotzdem hechteten Männer in dunklen Anzügen an eilig mir vorüber und Frauen in engen Kostümen drängten sich zwischen euphorisch wirkenden asiatischen Touristen vorbei, die sich in Grüppchen überall im Bahnhof verteilt zu haben schienen.
Dagegen war London Stansted der reinste Friedhof gewesen. Auf dem außerhalb gelegenen Flughafen hatte ich mich dafür entschieden, mit dem Bus ins Zentrum zu fahren. Das war bequem und dass die Tour eine ganze Stunde dauern sollte, war auch nicht weiter schlimm. Ich hatte es ja nicht eilig. Jamie trainierte samstagmorgens auf seiner langen Laufstrecke über Greenwich Park zur Tower Bridge und zurück, vor zehn Uhr brauchte ich nicht bei ihm aufzutauchen. Also hatte ich ein One-Way-Ticket gelöst und es mir auf einem der abgewetzten Sitze des Reisebusses gemütlich gemacht.
Die ganze Fahrt über war ich völlig ruhig gewesen – fast so, als wollte ich nur zu der alten Dame mit dem Stoffvorrat in Camden fahren, von der Jamie mir erzählt hatte. Das war wohl die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm gewesen, denn momentan, da ich zwischen den rastlosen Londonern im Bahnhof stand und nicht so recht wusste wohin, erfasste mich leichte Panik.
Ich war tatsächlich in London. Und in drei Stunden würde ich Jamie gegenüberstehen – wenn alles gut ging.
Aber was, wenn nicht? Wenn er nicht zu Hause war, oder wenn er mich gar nicht herein ließ, weil es eine andere Frau gab, die er mir verheimlicht hatte?
Oh nein
. Was hatte ich mir nur bei dieser Aktion gedacht?
Ich bewegte mich vorsichtig aus der voranstrebenden Menschentraube heraus und lehnte mich an eine glänzende Steinwand.
Tief durchatmen
.
Mit nervösen Fingern suchte ich in der Jackentasche nach meinem iPod und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Die Melodie von ‚You make me go on‘ erklang und ich sang stumm die Textzeilen vor mich hin, die Jamie mir gewidmet hatte.
But when I wonder about how to go on now
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