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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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er nicht so leicht loswerden. Warum bin ich bloß nicht eher gegangen? Ich hätte sie retten können! Wäre ich doch nur einen Tag früher gekommen! Sein Kopf dröhnte und sein Atem ging stoßweise.
    Da er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte, kehrte ein nasser, völlig durchfrorener und erschöpfter Sergej eine Stunde vor Sonnenaufgang zur Eisentür zurück, die immer noch offen stand. Er bewegte sich wie ein Geist. Es war ihm egal, ob ihn jemand sah oder nicht. Vielleicht bin ich ja gestorben , dachte er, und nun bin ich ein Gespenst, das für Menschen nicht sichtbar ist . Dann warf er sich auf seine Pritsche und fiel zu Tode erschöpft in einen bleiernen Schlaf.
    Beim ersten Licht des Tages öffneten sich seine Augen. Einen Augenblick lang dachte er, er hätte nur einen Albtraum gehabt. Aber als er sich aufsetzte, spürte er die Erschöpfung in seinen Knochen und sah den Ruß an seinen Händen. Es war kein Traum gewesen. Es war grausame Realität. Und er konnte niemandem davon erzählen, was er gesehen hatte - nicht einmal Andrej.

TEIL 2
    Überleben der Tüchtigsten
    Was Licht spenden will, muss es ertragen zu brennen.
     
VIKTOR FRANKL

6
    I n den nächsten drei Jahren gab sich Sergej ganz der täglichen Routine der Anstalt hin, wobei er nicht nur stärker und geschickter wurde, sondern auch in die Höhe zu schießen begann. Er erfüllte jede der ihm gestellten Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit, aber er tat es ohne große Begeisterung. Manchmal dachte er noch an seinen Großvater und klammerte sich wohl auch an die Erinnerung an die Familie Abramowitsch, aber jedes Mal, wenn er an sie dachte, erschienen die Bilder der rauchenden Trümmer vor seinem geistigen Auge.
    Eines Tages verbreitete sich die Nachricht, dass Sakoljew, der mittlerweile sechzehn war und im Gebäude der ältesten Kadetten lebte, einen dieser Kadetten fast umgebracht hätte. Sergej hörte, wie zwei der Kadetten miteinander flüsterten. Ihnen zufolge hatte sich Sakoljew wie ein Wahnsinniger aufgeführt und mit einem Stuhl auf ihren Freund eingeschlagen. Die Verletzungen, die dieser sich dabei zugezogen hatte, wurden offiziell einem Unfall zugeschrieben.
    Ein paar Tage nach diesem Vorfall überfielen sechs Freunde des Verletzten Sakoljew und verprügelten ihn nach Strich und Faden. Damit sandten sie dem Schläger die klare Botschaft, dass er wohl einen besiegen könne, aber nicht viele. Anscheinend nahm sich Sakoljew die Botschaft tatsächlich zu Herzen, denn als er aus dem Lazarett entlassen wurde, schien er ruhiger und weniger aggressiv zu sein. Aber in den folgenden Monaten hatte jeder der an dem Vorfall beteiligten Jungen merkwürdigerweise einen »Unfall«. Einer stolperte über einen Stein und brach sich den Knöchel, ein anderer wurde von einem fallenden Gegenstand getroffen, der ihm fast den Schädel eingeschlagen hätte, ein dritter kam gerade um eine Ecke, als er mit einem nicht näher definierten Gegenstand zusammenstieß, ein vierter fiel die Treppe hinunter und so weiter.
    Sakoljew hatte etwas gelernt. Von nun an hieß seine Devise: Teile und herrsche. Die anderen verstanden. Keiner von ihnen redete über seinen »Unfall«, weil sie schlicht und einfach Angst um ihr Leben hatten.
     
    An einem heißen Sommertag im Jahre 1885, ein paar Monate vor Sergejs dreizehntem Geburtstag, kehrte Alexej Orlow zurück - jener Kosak, der ihnen damals die Nachricht von der Ermordung des Zaren überbracht hatte. Kommandant Iwanow gab mit äußerst zufriedener Miene bekannt, dass es im gelungen war, Orlow als Instruktor an die Anstalt zu holen.
    »Wie ihr bald erfahren werdet«, erklärte er, »beherrscht Alexej Igorowitsch Orlow die Künste des Spurenlesens, des Überlebens in der Wildnis, Reitens und Kämpfens wie kein anderer. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er auf dem Rücken eines galoppierenden Hengstes stand, über einen Ast sprang und leichtfüßig wieder auf dem Rücken des Pferdes landete. Selbst Instruktor Brodinow wird im unbewaffneten Kampf in Alexej Orlow einen würdigen Gegner finden.«
    Sergej schielte in die Richtung des Angesprochenen und sah, wie sich dieser verlegen über die Glatze strich und dabei grinste.
    Das Loblied, das Kommandant Iwanow auf den Neuankömmling gesungen hatte, erwies sich als mehr als gerechtfertigt. In den folgenden Wochen hatte Alexej der Kosak, wie ihn die Kadetten unter sich nannten, mehrfach Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Sergej merkte, dass er den Kosaken auf dieselbe

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