Socrates - Der friedvolle Krieger
Körper fühlte sich irgendwie anders an.
Sergej erinnerte sich an eine Geschichte, die ihm Seraphim einmal erzählt hatte. Sie handelte von einem Mann, der jeden Tag betete und Gott darum bat, ihm mehr Energie zu schenken. Seine Gebete wurden nie erhört, bis er eines Tages voller Verzweiflung ausrief: »Bitte Gott, fülle mich mit Energie!« Da antwortete Gott: »Ich fülle dich ständig, aber du hast dein Leck noch immer nicht verschlossen.«
Sergej »leckte« nicht mehr - zumindest nicht so sehr wie am Anfang - und sein Energieniveau schien jeden Tag zuzunehmen. Und er brauchte diese Energie, denn Seraphim ließ ihm keine Ruhe. Das Einzige, was Sergej die Kraft gab, die Ausbildung durchzustehen, war die Erinnerung an Anja und an seinen Schwur.
In den folgenden Wochen schlug, stieß und stach Seraphim auf Sergej ein, verdrehte ihm die Gelenke und drückte gegen äußerst empfindliche Punkte, um Sergej immer stärkere Schmerzen zuzufügen.
»Merkst du, dass du Angst verspürst, wenn ich hier drücke? Dass du Wut spürst, wenn ich hier drücke? Die Reaktion ist bei jedem Menschen etwas anders. Aber ganz gleich, welche Empfindung du auch spüren magst, lass sie einfach durch dich hindurchfließen und konzentriere dich auf dein Ziel.«
Der alte Mönch fing auch damit an, Sergej ins Gesicht zu schlagen, bis er gelernt hatte, sich zu konzentrieren und den Schmerz durch sich hindurchgehen zu lassen. Einem der anderen Mönche fiel das - wie er es nannte - »gesunde Glühen« von Sergejs Wangen auf. »Deine Übungen müssen ja wirklich sehr belebend sein«, kommentierte der Bruder.
Sergej lächelte wissend und dachte nur: Wenn der wüsste .
Eines Nachmittags rief Vater Seraphim vier Brüder herbei, die ihm bei einer Übung helfen sollten. Da die Mönche Gewaltlosigkeit geschworen hatten, hielten sie nichts von diesen Trainingsmethoden, aber sie vertrauten auf die Weisheit von Vater Seraphim. Also machten sie sich daran, die Beine und Arme des auf dem Boden liegenden Sergejs festzuhalten. Wie ihnen Seraphim aufgetragen hatte, zogen sie die Gliedmaßen in die vier Himmelsrichtungen, wodurch sie Sergej ein nicht unerhebliches Maß an Schmerz verursachten. Sergejs Aufgabe bestand darin, sich einfach nur zu entspannen. Er fand die Übung ziemlich schwer, denn sie rief in ihm die Erinnerung an jenen Tag wach, als er schon einmal hilflos am Boden gelegen hatte und seine Anja ermordet worden war. Aber heute gelang es ihm, sich zu entspannen, sich nicht zu wehren und sich trotzdem aus seiner misslichen Lage zu befreien.
Nachdem die Mönche gegangen waren, sagte Seraphim: »Wie du siehst, Socrates, wirst du nie wieder hilflos zu Boden gedrückt werden, wenn du dich nur entspannst.«
Sergej dachte zurück an den Tag, als er seinem Mentor in allen Einzelheiten erzählt hatte, was damals geschehen war und was der Auslöser für seine Suche war. Er hatte das merkwürdige Gefühl gehabt, dass seine Worte nur das bestätigt hatten, was sein Lehrer bereits »gesehen« hatte.
Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart richtete, hörte er seinen Lehrer gerade sagen: »Statt sofort zu versuchen, dich zu befreien, solltest du erst einmal einfach den körperlichen Kontakt spüren. So weißt du immer, wo sich dein Gegner befindet. Wenn er nach dir greift, hast du ihn. Dann bewege dich so, dass du ihn werfen kannst.«
Das Training ging weiter und weiter und schien kein Ende zu nehmen. Im Winter des folgenden Jahres wurde sich Sergej schmerzhaft jeder Schwäche, jedes Ungleichgewichts und jeder Anspannung bewusst. Als er Seraphim sagte, dass er das Gefühl habe, immer schlechter zu werden, lächelte dieser. »Du machst dieselben Fehler wie immer, Socrates, aber du bist dir ihrer stärker bewusst. Im Leben geht es nicht um Perfektion, sondern um stetige Verfeinerung. Und du hast noch eine Menge zu verfeinern.«
Am nächsten Nachmittag setzte Seraphim das Schmerztraining fort. Er war gerade dabei, Sergej mit einer Lederpeitsche zu schlagen, als einer der Brüder vorbeiging und leise vor sich hin murmelte: »Im Mittelalter hätten sie dafür Schlange gestanden.« Als er weitergegangen war, mussten beide lachen. Nachdem er sich beruhigt hatte, sagte Seraphim: »Kein gesunder Mensch wünscht sich Schmerz und es macht mir keine Freude, dir Schmerz zu bereiten, Socrates. Aber dieses Training soll dich vorbereiten und abhärten, damit der Schmerz, den du in einem Kampf unweigerlich erleben wirst, dich nicht schockiert, entmutigt
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