Socrates - Der friedvolle Krieger
oder langsamer macht.«
Sergej dachte jedes Mal, wenn er einen Peitschenhieb erhielt, an Sakoljew.
Im Frühjahr 1903 verband Seraphim Sergej während des Trainings die Augen, um so seine Sensibilität und seine Bewusstheit zu verbessern. Er führte Sergej durch den Wald und erklärte: »Falls du einmal vorübergehend geblendet sein solltest, musst du mit den Sinnen, die dir verbleiben, weiterkämpfen können.«
Nachdem er einige Male hingefallen und sich einige blaue Flecken zugezogen hatte, gelang es Sergej, sich um Hindernisse herumzufühlen. Sein Gehör wurde schärfer und manchmal spürte er sogar die Energie der Pflanzen und Bäume, die ihn umgaben. Seraphim ließ auch jetzt nicht von ihm ab und rempelte ihn unvermutet von vorne, von hinten oder von der Seite an. Sergejs Aufgabe war es, sich augenblicklich zu entspannen, auszuweichen oder abzurollen. Wenn er einen Augenblick lang nicht mehr wusste, wo sich sein Lehrer aufhielt, schlug ihn Seraphim mit dem Stock auf den Kopf. Nachdem sie in die Einsiedelei zurückgekehrt waren, wurde Sergej in einen Raum geführt und musste mit immer noch verbundenen Augen sagen, ob und wie viele Mönche sich darin aufhielten.
Oft befahl Seraphim seinem Schüler, die Augen zu schließen und die Umgebung so detailliert wie möglich zu beschreiben. Das bestärkte Sergej darin, sich seine Umgebung stets genau einzuprägen und sich ihrer bewusst zu sein, statt in Gedanken woanders zu sein.
»Du lernst«, erklärte Seraphim, »mit deinem ganzen Körper zu denken. Du lernst sozusagen, den Verstand zu verlieren und wieder zu Sinnen zu kommen.«
Dann band Seraphim dünne Bänder um Sergejs Knöchel und Ellenbogen und zog daran, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, während Sergej gegen unsichtbare Gegner kämpfte. Ein anderes Mal fesselte er Sergej die Hände auf den Rücken und zwang ihn dadurch, mit Schultern, Kinn, Hüften, Kopf, Füßen, Knien oder dem ganzen Rumpf zu kämpfen. »Wenn du gar nichts mehr einsetzen kannst, gebrauche deine Phantasie. Du wirst überrascht sein, was du alles mobilisieren kannst, wenn du dich in großer Not befindest.«
Sergej erlernte auch neue Möglichkeiten, sich aus Halte- und Würgegriffen sowie aus Hebeln zu befreien. Er erlernte verschiedene Möglichkeiten, im Stehen, Liegen oder während des Aufstehens gegen mehrere Angreifer zu kämpfen, sodass er sich nun auch verteidigen konnte, wenn er verletzt war oder sich in einer unbequemen Position befand.
Als Sergej wieder einmal an die vor ihm liegende Aufgabe dachte und an die Männer, gegen die er antreten musste, sagte er zu Seraphim: »Einige meiner Gegner sind größer und stärker als ich. Einer von ihnen ist sogar ein Riese.«
»Das ist unerheblich«, antwortete sein Lehrer. »Große Männer können gut auf Distanz kämpfen, weil sie eine große Reichweite haben, aber weiche, fließende Bewegungen machen Größe und Stärke mehr als wett. Ein kleinerer Mann ist besser für den Nahkampf geeignet. Jeder Körpertyp hat seine Stärken und Schwächen, deshalb solltest du daran arbeiten, deine Schwächen zu minimieren und dich auf deine Stärken zu konzentrieren. Du kannst sogar einen schnelleren Gegner besiegen, wenn du augenblicklich auf den Impuls zu einem Angriff reagierst, statt darauf zu warten, bis er tatsächlich ausgeführt wird.«
Im Sommer entschied Seraphim, dass Sergej »endlich so weit war, etwas zu lernen«. Sie gingen auf eine Lichtung im Wald, wo der alte Mönch ihm zeigte, wie man einen Mann mit einem Schwert entwaffnet. Während er ein rasiermesserscharfes Schwert schwang und sich leichtfüßig vor und zurück bewegte, erklärte Seraphim: »Wenn du weißt, wie man ein Schwert führt, verstehst du besser, wie du dich dagegen verteidigen kannst.«
Nachdem Sergej einige Wochen lang die Stoß- und Schlagtechniken der japanischen Samurai geübt hatte, forderte Seraphim ihn auf, den Säbel so schnell wie möglich aus der Scheide zu ziehen und ihn anzugreifen.
Dann nahm er eine wache, entspannte Haltung ein und stellte sich drei Meter vor Sergej auf. Sergej wollte das Schwert ziehen, nach vorne stürzen und zuschlagen, aber kaum hatte er begonnen, als Seraphim schon neben ihm stand und seinen Schwertarm festhielt, sodass es Sergej nicht gelang, die Waffe vollends aus der Scheide zu ziehen. Dann demonstrierte der weißhaarige Mönch mehrere Möglichkeiten, wie er Sergej außer Gefecht hätte setzen können.
»Kümmere dich nicht um die Waffe, Socrates, kümmere dich
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