Socrates - Der friedvolle Krieger
immer um den Mann, der sie trägt. Konzentriere dich auf deinen Gegner, während er sich auf sein Messer, seinen Säbel oder seine Pistole konzentriert. Wenn er sich auf seine Waffe verlässt, vergisst er seinen Körper. Und in dem Augenblick, in dem er die Waffe ziehen will und in dem du normalerweise instinktiv zurückweichen würdest, gehe ohne zu zögern nach vorne und entwaffne ihn, bevor er ziehen kann. Beende den Angriff, bevor er stattgefunden hat.«
Es brauchte einige Wochen und viel geduldiges Üben, bevor Sergej gelernt hatte, die Entfernung zwischen sich und seinem Gegner in Sekundenbruchteilen zu überwinden.
Dann schien Sergejs Ausbildung plötzlich eine völlig andere Richtung zu nehmen. Als sie eines Abends in der kühlen Septemberluft zurück zur Einsiedelei gingen, sprach Seraphim über Geduld und über Moral. »Du hast in den letzten Jahren viel gelernt, Socrates, aber das körperliche Training ist nur der Anfang. Die Bewegungen der wirklich großen Krieger sind deshalb so entspannt und allumfassend, weil sie für etwas Größeres kämpfen als für sich selbst. Nur wenn du dich Gottes Willen unterwirfst, wirst du im Kampf siegreich sein und ein friedvolles Leben führen können.«
Seraphim fing wieder an, vor Sergej auf und ab zu laufen, wie er es immer tat, wenn er etwas besonders Wichtiges zu sagen hatte. »Der wahre Krieger bewahrt sich seine Menschlichkeit auch im Kampf. Wenn du gewinnst und deinen Gegner vernichtest, verlierst du möglicherweise deine Seele. Jene, die gegen Monster kämpfen, werden oft selbst zu Monstern.«
Diese Worte und der Geist, der sich durch sie ausdrückte, berührten nicht nur Sergejs Verstand, sondern auch sein Herz. Als er in die gütigen Augen des alten Mönchs blickte, verspürte er ein Glühen in seiner Brust. In den letzten sieben Jahren war Seraphim für ihn immer ein Mentor gewesen, aber mittlerweile war er weit mehr als das. War es nicht eine Ironie des Schicksals, dass Sergej ihn nicht Vater nennen durfte, wo er doch genau das für ihn geworden war? Seraphim war der Vater geworden, den Sergej nie gehabt hatte.
In jener Nacht betete Sergej aus ganzem Herzen. Er dachte voller Liebe an Anja und seinen Sohn und dankte Razin und Gott dafür, dass sie ihn nach Walaam geschickt hatten. Und er sprach ein Dankesgebet für Seraphims Großzügigkeit und Menschlichkeit.
Sergej hatte von Anfang an gewusst, dass der alte Mönch nicht wollte, dass er sein Vorhaben ausführte, und doch ließ Seraphim ihn - wenn ihn seine Pflichten nicht gerade woanders hinriefen - an seinem Leben und an seiner Erfahrung teilhaben. Er erhielt keine Gegenleistung dafür - nur Sergejs Dankbarkeit. Es schien Seraphim völlig zu genügen, ein Werkzeug des mysteriösen göttlichen Willens zu sein. Dafür liebte Sergej ihn nur noch mehr.
33
P aulina lachte vor Freude auf, als sie Konstantin knapp entwischte und vor ihm durch den Wald davonlief. Konstantin hätte sie leicht einholen können, aber er entschied sich dafür, sich von ihr besiegen zu lassen. Aber wenn sie weiter jeden Tag so hart mit dem großen Jergowitsch trainierte, würde sie bald wirklich besser sein als ihr Freund.
Konstantin, der inzwischen zu einem gut aussehenden jungen Mann herangewachsen war, sah sich immer noch als Paulinas Beschützer, obwohl sie eigentlich keinen Beschützer mehr brauchte, denn für eine Elfjährige konnte sie erstaunlich gut auf sich selbst aufpassen. Aber wie oft hatte er in der Vergangenheit für sie da sein müssen! Er hatte sie nicht vor den anderen Jungen beschützen müssen, da keiner von ihnen so dumm gewesen wäre, dem Liebling des Atamans etwas anzutun, sondern vor sich selbst. Paulina war immer ein richtiger Wildfang gewesen und hatte alles ausprobiert, was ihr einen Nervenkitzel versprach: Sie war auf die höchsten Bäume geklettert oder auf rutschigen Baumstämmen über tiefe Abgründe balanciert. Mittlerweile war sie so drahtig und so schnell wie ein Junge.
Und da sie der große Jergowitsch persönlich ausbildete, würde sie bald schneller sein und besser kämpfen können als selbst die älteren Jungen. Jergowitsch lehrte sie die klassischen Kampfmethoden der Kosaken, die mehr Wert auf fließende Bewegungen, perfektes Gleichgewicht und Beweglichkeit legten als auf Körperkraft und Größe. Alle waren sich darin einig, dass Paulina außerordentlich beweglich war und dass sie besonders talentiert war, aber niemand hätte sagen können, warum der Ataman so versessen darauf war,
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