Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
es nicht! Was ist bloß aus dir geworden? Du bist eine Lamia. Blut von meinem Blut. Fleisch von meinem Fleisch. Ich habe dich in mir getragen, dich genährt! Du bist das Kind der Göttin Selene!“
Die gemurmelte Erwiderung des gottgleichen Kindes kam zu leise, um verstanden zu werden. Zumal Selene aufheulte, als stünde sie in lodernden Flammen. Mica nahm die Treppe nach oben in langen Sätzen. In seiner Abwesenheit war etwas furchtbar außer Kontrolle geraten. Er stürzte in den Salon. Die Flügeltüren waren offen, Winterkälte hatte die Wärme des Feuers aufgesaugt. Berenike saß an einem Tisch, vor sich eine Schale mit roten Äpfeln. Selene hatte die Arme über den Kopf gereckt und schrie zur Decke auf. Eine Ursache für ihren Ausbruch entdeckte er nirgends. Außer der Kälte, an der sie sich ohnehin nicht störten, fand er nichts Ungewöhnliches vor. Selene hatte einst Griechenland geliebt, bevorzugte griechische Gewänder und führte vor ihm eine griechische Tragödie auf. Allerdings hielt er es eher für ein Schmierenstück. Er musste laut werden, um ihre Klageschreie zu übertönen.
„Was ist hier los?“
Abrupt endete der Schrei. Selene senkte die Arme und drehte sich zu ihm um. In ihren Augen stand Wahnsinn. Sie hatte sich die Unterlippe zerbissen. Blut klebte an ihren Mundwinkeln. Ihr Aussehen war so befremdlich, dass Mica zurückwich. Anklagend wies Selene zu Berenike.
„Ich habe herausgefunden, womit sie ihre Tage hier oben zubringt, wo sie gar nicht sein sollte. Sie hintergeht mich. Ich erwischte sie dabei, wie sie in einen Apfel biss. Sie hat einen Apfel gegessen, Mica!“
So wie Selene es sagte, klang es, als habe Berenike an ihrer eigenen Mutter geknabbert. Er betrachtete die Apfelschale, dann seine Schwester. Unverfroren hielt sie ihm stand. Sie wirkte unverändert. Die Haut honigbraun und glatt, das bläulich schwarze Haar zu einem straffen Knoten im Nacken gebunden, die Augen dunkel und voller Trotz.
„Um präzise zu sein, hatte ich schon drei Äpfel gegessen, bevor sie mich mit dem vierten erwischte.“
Die Antwort passte zu einer Lamia. Einst hatte sie sich nicht für das Töten ihrer Quellen entschuldigt, und bat auch jetzt nicht wegen einiger Äpfel um Vergebung.
„Schädlichen Unrat hast du verschlungen!“, gellte Selene.
„Wie geht es dir nach diesem seltsamen Mahl?“, erkundigte Mica sich.
Berenike zuckte die Schultern und zwirbelte einen Apfelstiel zwischen ihren schlanken Fingern.
„Sie hat den Verstand verloren, Mica. Mein einziges Mädchen fällt ohne ihr Gift dem Wahnsinn anheim.“ Selene kam auf ihn zu, verhielt vor ihm und wisperte kaum hörbar in sein Ohr, wobei ihre Locken über seine Wange kitzelten. „Mein Biss könnte sie heilen oder töten. Ein großes Wagnis, aber lieber sehe ich sie tot als in diesem Zustand.“
Ohne sein Entsetzen zu zeigen, schob er Selene von sich. Der Wahnsinn war ihr viel dichter auf den Fersen als ihrer Tochter, wenn sie den Tod ihres Kindes in Betracht zog. Zuerst musste er Berenike aus ihrer Reichweite bringen.
„Berenike, geh zum Palazzo von Tizzio di Mannero und halte Wache. Sollten die Larvae zurückkehren, weckst du Garou. Er hat sie ein Mal zurückgeschlagen. Solange der Vollmond über Rom steht, wird es ihm ein zweites Mal gelingen.“
Berenike erhob sich, schnappte sich einen letzten Apfel und ging davon. Ohne ein Widerwort oder eine einzige Schmähung gegen ihn. Er wartete, bis er sicher sein konnte, dass sie die Villa verlassen hatte. Erst dann befasste er sich mit Selene und trat vor sie.
„Dein Lächeln ist unangebracht, mein Sohn. So liebenswert es ist, es kann mich nicht …“
Ohne Vorwarnung schlug er ihr ins Gesicht. Sein Handrücken schleuderte ihren Kopf zur Seite, rotes Haar flog auf. Da seinLächeln sie getäuscht und sie mit dem Schlag nicht gerechnet hatte, taumelte sie zurück und fiel in einen Sessel. Ehe sie aufschnellen konnte, setzte er ihr nach, packte ihr Kinn und drückte ihren Kopf in den Nacken. Von dem Gift an ihren Fängen ließ er sich nicht einschüchtern. Sie zischte ihn an. Er knurrte zurück.
„Nie wieder wirst du darüber nachdenken, einen Nachkommen mit deinem Gift zu töten. Berenike ist dein Kind und meine Schwester. Wenn du sie anrührst, bringe ich dich um.“
„Sie isst Äpfel!“, presste Selene hervor.
„Mein eigenes Kind isst unentwegt etwas, das ich nicht verdauen könnte.“
„Dein Kind ist eine Sterbliche. Berenike war mein ganzer Stolz. Eine Lamia. Sie werden so
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