Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
herausgefordert hast. Du und ich in einem Duell ohne Silber. Das Rudel wird dich dafür feiern. Du darfst mir sogar einen Schlag versetzen. Na, wie klingt das? Sag schon.“
Ihre Stimme erstickte in der niedrigen Zelle. Vergeblich wartete sie auf eine Reaktion. Eine Lamia konnte eben keine Rudelwölfin aufmuntern, ihr keinen Trost spenden, keinen Kampfgeist einflößen. Saphira war keine Alpha, sondern nur von Tizzio gebissen worden. Ohne ihn verkümmerte sie.
Berenike hatte zu viel Atem vergeudet. Der Kokon hatte sich enger geschlossen, eine weiße Wand, die von allen Seiten auf sie zurückte. Sie ließ sich davon nicht einschüchtern. Sie würde weiterreden, schon aus Prinzip. Bis zum Ende wollte sie durchhalten, gleichgültig, wie es aussah. Sie holte absichtlich tief Luft und hob die Stimme.
„Saphira, sprich mit mir! Mach meinetwegen ‚wuff’, aber sag etwas!“
Aus dem anderen Kokon raspelte ein schwaches Stimmchen. „Meine Knochen sind zu sehen. Bei lebendigem Leib … werde ich … aufgezehrt.“
Was? Ruckartig senkte Berenike den Kopf. Ihre Stirn prallte gegen den Kokon. Mit den Armen eng am Körper, hob sie die Hände und nestelte an den oberen Hemdknöpfen. Ihre Haut kam zum Vorschein. Honigbraun. Glatt. An ihr zehrte nichts, aber das würde sie Saphira nicht wissen lassen.
„Das ist normal. Wir brauchen Nahrung. Bevor es schlimmer wird, sind wir frei. Verlass dich drauf. Mein Bruder wird schon dafür sorgen. Du kennst ihn nicht – ich zum Glück auch nicht, denn ich mag ihn nicht – aber er ist der Großmeister der Vampire. Er würde nicht zulassen, dass mir etwas zustößt. Allein schon, weil es seinem Ruf schadet. Alle würden behaupten, er sei außerstande, auf seine Schwester zu achten.“
Ein gedehntes Winseln hob an. Berenike schlug die Faust in das Gewebe. Es schmerzte, doch Schmerz war gleichgesetzt mit Leben.
„Glaubst du etwa, ich werde dich hier zurücklassen? Das mache ich nicht. Du und ich wir haben eine Verabredung um Mitternacht auf dem Forum Romanum. Das ist abgemacht. Wage nicht, zu sterben und eine Lamia zu versetzen. Verstanden?“
Nichts. Kein Knistern der starren Fackeln, keine durch die Zelle huschende Maus, kein mickriger Käfer, der über die Mauerritzen krabbelte. Sie waren umgeben von Nichts.
„Saphira! Antworte mir … Saphira?“
Die Wölfin schwieg.
Lange betrachtete Aurora die Pyramide aus Honigkuchen. Ein Rand aus Rosinen war darum herum gestreut. In Selenes Haushalt wusste niemand von ihrer Vorliebe für Tomaten. Sie nahm das oberste Stück und biss eine kleine Ecke ab. Süße füllte ihren Mund. Während der Honigkuchen an ihrem Gaumen schmolz, verscheuchte sie jeden Gedanken an Ruben und seine Missetat. Er war gegangen und das Atrium gehörte ihr. Auch Selene hatte das Haus verlassen, um auf eigene Faust nach ihrer Tochter zu suchen, wie jede Nacht, seit sie verschwunden war. Mica hatte sich in einen anderen Teil der Villa zurückgezogen. Sich selbst überlassen, knabberte sie Kuchen und Rosinen und sann über Saphira und die junge Lamia Berenike nach.
Erst als sie ihre Frage ausformuliert und in Gedanken mehrfach wiederholt hatte, zog sie das Grimoire heran und schlug es auf. Eine andere Seite öffnete sich. Erleichtert seufzte sie, nahm Papier und Feder und schrieb die Namensliste aus dem Grimoire ab. Nachdem sie alles noch einmal überprüft hatte, verstaute sie das Hexenbuch in der Schatulle und widmete sich einem anderen Rätsel. Wie hatte sie eine Sturmböe heraufbeschwören können, die stark genug war, um eine Lamia durch den Raum zu schleudern? Sie war wütend gewesen. Nein, das traf es nicht. Vor lauter Wut hatte sie nichts mehr sehen können außer dunklem Purpurrot. War also gerechter Zorn der Auslöser ihrer Magie? Könnte es etwa sein, dass jede starke Emotion ihre Gabe weckte? Eines stand fest, sie war eine Strega, ohne Wenn und Aber. Sie benötigte keinen fremden Schutz, um sich zur Wehr zu setzen. Warum also fühlte sie sich so klein?
Sie blickte über die Schulter in die Weite des Atriums. Hier würde sich jeder verloren fühlen. Die Opulenz des Raumes stand im krassen Gegensatz zu allem, was sie kannte und schätzte. Außerdem gehörte die Stille zu einem Mausoleum. Nicht einmal die Dienstboten, von denen es einige gab, waren zu hören. Es fehlte jedes Geräusch, das auf Leben hinwies. Selbst im Kloster war es nicht so ruhig. Dort gab es wenigstens das Scharren von Schritten, die leisen Gebete der Nonnen, hin und wieder ein
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