Söldner des Geldes (German Edition)
Herbstabend war kühl geworden, und bald würde der erste Schnee fallen.
Der Scheich fragte: «Hast du schon Pläne?»
«Nein. Aber der nächste Winter kommt bestimmt.»
Peter Beutler
WEISSENAU
Kriminalroman
ISBN 978-3-86358-096-4
Leseprobe zu Peter Beutler,
WEISSENAU
:
Interlaken, Januar 2001
Der Nachmittag war schon weit vorgerückt, als am Freitag, dem 5. Januar 2001, zwei Personen den Polizeiposten Flurmühle in Interlaken betraten: eine Frau, um die vierzig Jahre alt, und ein etwa zehnjähriger Junge. An den unsicheren Blicken, mit denen sie sich umsahen, merkte Anna Rieder, dass sie sich in dieser Umgebung nicht besonders wohlfühlten. Die Sekretärin des Polizeipostens stöhnte innerlich auf. Eigentlich hatte sie gehofft, pünktlich ihren Feierabend antreten zu können. Den Dienstvorschriften gemäss setzte sie aber ein höfliches Lächeln auf.
«Kann ich Ihnen helfen?»
Die Frau lächelte dankbar zurück. «Wir möchten eine Beobachtung melden, die Johannes – mein Junge – gemacht hat», sagte sie dann zögernd. «Ich befürchte, etwas sehr Schlimmes ist geschehen.»
Anna Rieder musterte Johannes, ein blasses Kerlchen mit aschblondem Haar, für dessen Schnitt entweder ein schlimmer Stümper unter den Friseuren oder die Mutter selbst verantwortlich war. Ein rascher Blick auf die schon etwas abgeschabte Winterjacke von Frau Bellwald, deren Farbe und Muster vor fünf Jahren einmal modern gewesen waren, liess sie vermuten, dass die Mutter den Haaren ihres Sohnes wohl selbst mit der Schere zu Leibe gerückt war. Für sie waren die paar Franken für den Coiffeur wohl schon zu teuer.
Ob sie die Frau mit ihrem Buben, der vermutlich nur schlecht geträumt hatte, einfach abwimmeln sollte? Aber dann siegte doch ihr Mitgefühl.
«Ich bin hier nur die Sekretärin und kann Ihnen selbst nicht weiterhelfen», sagte sie. «Aber ich schaue einmal nach, wer gerade für Sie Zeit haben könnte.» Mit gerunzelter Stirn ging sie den Schichtplan durch, bis ihr Blick beim Namen Benjamin Luginbühl hängen blieb.
Luginbühl stand nur noch drei Wochen vor dem Eintritt in den Ruhestand. In den letzten Jahren war er häufiger krankgemeldet als anwesend gewesen, deshalb war er schon lange nicht mehr in die regulären Dienstpläne einbezogen, sondern erledigte vor allem Büroarbeiten, auf die andere keine Lust hatten. Er hatte also ausreichend Zeit. Und er war mehrfacher stolzer Grossvater. Bestimmt würde er sich die Sorgen des Jungen anhören, ohne ungeduldig zu werden oder ihn zu erschrecken. Befriedigt von dieser Lösung griff Anna Rieder zum Telefon und wählte Luginbühls Nummer.
Der ältere Polizeibeamte, der Eva Bellwald und ihren Sohn Johannes kurz darauf in sein Büro hineinbat und ihnen fürsorglich die Stühle zurechtrückte, war ihr sofort sympathisch. Trotz seiner Uniform strahlte er eine vertrauenswürdige Gemütlichkeit aus. Als er sich auf seinem Stuhl niederliess, wurde ihr klar, woher diese Ausstrahlung kam: Er sah fast so aus wie der legendäre Schauspieler Schaggi Streuli aus den alten Schwarz-Weiss-Filmen «Polizist Wäckerli».
«Du hast also etwas beobachtet, das die Polizei wissen muss?», fragte er Johannes freundlich. «Es ist sehr lobenswert, dass du uns das melden willst. Was war das denn? Ein Diebstahl?»
Johannes schüttelte den Kopf. «Ein Mord», sagte er fest.
Luginbühl nickte bedächtig, während er im Geiste alle Möglichkeiten erwog, mit einer solchen Behauptung aus dem Mund eines Kindes umzugehen. Sein Bauchgefühl täuschte ihn selten: Der Junge erlaubte sich keinen schlechten Scherz mit ihm. Er meinte ernst, was er sagte; er war wirklich sicher, einen Mord gesehen zu haben.
Möglicherweise war es auch so gewesen. Kinder waren tatsächlich manchmal Zeugen von Straftaten; er hätte Dutzende solcher Fälle aufzählen können. Deshalb wäre es fahrlässig gewesen, eine solche Aussage nicht ernst zu nehmen.
«Ein Mord ist ein sehr schlimmes Verbrechen», sagte er und sah Johannes in die Augen. «Erzähl mir bitte in allen Einzelheiten, was du gesehen hast. Darf ich das Gespräch aufnehmen? Ich lösche das Band wieder, sobald ich das Protokoll geschrieben habe. Denn jetzt möchte ich nicht so gerne mitschreiben, sondern dir lieber ganz genau zuhören.»
Der Junge gab mit einem Nicken sein Einverständnis. Luginbühl schaltete das Band an, und Johannes begann zu erzählen:
«Ich war gestern Abend auf der Burgruine Weissenau. Dort habe ich den Mord gesehen.»
«Um wie viel Uhr
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