Sohn Der Nacht
ersten Opfer an diesem Fall betei ligt, nicht wahr«, sagte Mom, »die Leiche, die an der Kathe drale gefunden wurde?«
»Wieso glaubst du das?«
»Irgend etwas bereitet dir doch Sorgen. Du hast ein paar mal im Schlaf geschrien. Und du kaust an den Fingernägeln.«
»Tue ich nicht.« Katie blickte auf ihren rechten Daumenna gel und war überrascht, Ausbuchtungen voller Zacken zu sehen.
»Diese Leichen zu sehen muß schrecklich sein. Gibt es sonst noch irgend etwas?«
Katie fing an, in den Daumennagel zu beißen. Mom schlug spielerisch nach ihrer Hand. Ich muß darüber reden, dachte Katie. Das kann ich auch tun, ohne mein Versprechen zu bre chen, das ich Merrick gegeben habe, wenn ich nichts über das Blut sage. »Du mußt mir aber versprechen, das strikt für dich zu behalten.«
Mom nickte.
Katie erzählte ihr von der letzten Nacht - wie sie den Objektträger verloren hatte und wie sie die Berührung an ihrem Rücken gespürt hatte, obwohl niemand da war. Sie schauderte. »Ich weiß, es klingt unmöglich.«
»Hast du es Merrick gesagt?«
»Er meinte, die Phantasie gaukle mir etwas vor, weil ich Angst gehabt hätte. Vielleicht hat er recht.«
»Aber du glaubst das nicht.«
Das war nicht die Reaktion, die Katie erwartet hatte. Wie der fühlte sie sich ganz und gar unwohl.
Mom kreuzte die Arme und umklammerte sich selbst, als versuche sie, sich vor irgend etwas zu schützen. Eine Moment lang schienen ihre Augen weit entfernt. »Deine Großmama Guillemin erzählte mir einmal eine Geschichte, wie sie eines Abends nach Einbruch der Dunkelheit allein in ihrem Ruderboot überrascht worden war. Genau zu dieser Zeit hatte es ein paar Morde in der Gegend gegeben, bei denen den Opfern die Kehlen durchgeschnitten worden waren. Es fehlte Blut. Mut ter war unterwegs, um ihre Krabbenfallen abzuernten, und hatte darüber die Zeit vergessen. Als sie merkte, daß die Sonne unterging, ruderte sie wieder nach Hause. Unterwegs beschäftigten sie die Morde sehr, und sie hat sich richtig in sie hinein vertieft. Plötzlich sah sie eine dunkle Gestalt, einen Mann, an der Küste entlanggehen, mit ihr Schritt hielt. Sie konnte nicht sehen, wer es war, aber sie rief ihn trotzdem an. Er antwortete nicht. Da nahm sie ihren Revolver vom Doll bord, und im selben Augenblick ist der Kerl verschwunden.«
»Du meinst, er hat sich hinter einen Baum geduckt?«
»Sie sagte, er sei verschwunden. In der einen Sekunde war er noch da, in der nächsten nicht mehr.«
Katie blickte Mom an und fragte sich, warum sie nicht ungläubig lächelte. Noch vor einer Woche hätte sie es getan. Jetzt nicht. Aber trotzdem konnte sie es auch nicht so ganz glauben. »Du sagst, es war ein Mann ...«
»Deiner Großmama erschien er wie einer.«
»Nun, ich sehe nur noch nicht, wie ein Mensch sich selbst unsichtbar machen könnte«, sagte Katie.
»Das war auch meine Einstellung dazu, mehr oder weni ger. Das Problem ist nur, daß das nicht das einzig Merkwür dige war, was man mir erzählte oder was ich sah, als ich in den Flußniederungen aufwuchs. Ich könnte dir ganz andere Dinge erzählen ...« Der in unendliche Ferne gerichtete Blick erschien wieder auf Moms Gesicht. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Aber bleiben wir doch bei dem hier. Zuerst meine Mutter, dann meine Tochter - da muß es doch irgend eine Erklärung geben.«
Katie dachte darüber nach. »Nun, das Sehen geschieht im Gehirn, ist also subjektiv, nicht objektiv. Es gibt so etwas wie hysterische Blindheit. Und es gibt auch leere Stellen in den Augen. Die größte liegt auf der Rückseite eines jeden Auges, wo alle visuellen Neuronen sich zu einem Bündel vereinigen und zum Hirn geleitet werden. Man nennt sie den blinden Punkt. Du merkst es nicht, wegen der Differenz in der Per spektive zwischen den beiden Augen und weil das Gehirn diese Leerstelle mit dem auszufüllen scheint, was es an dieser Stelle zu sehen erwartet.«
Mom lehnte sich vor. »Blinde Stellen. Das ist ja interessant. Das wußte ich nicht.«
»Aber letzte Nacht habe ich gesucht, den Kopf bewegt - und die Augen - in jede Richtung. Wenn da jemand gewesen wäre, dann hätte sein Bild überall auf meiner Retina erscheinen und nicht nur ständig an meinem blinden Punkt einfallen müssen.«
»Vielleicht kann dieses Ding andere blinde Punkte in dei nen Augen erstehen lassen, größere vielleicht, die sich auf dei ner Retina genauso bewegen, wie es sich bewegt.«
»Es?« fragte Katie skeptisch, aber sie spürte einen Schau der.
»Na
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