Sokops Rache
bunte Getümmel draußen und sieht doch nichts. Bis zwei weiße Männer mit einer Trage auf Rollen über den Kai kommen, darauf, unter einer metallisch glänzenden Folie, ein Körper. Nur der Kopf schaut heraus. Bernhard Oldenburg. Sie schieben ihn in den Ambulanzwagen, einer hält eine Tropfflasche über ihn, ein zweiter springt neben der Trage in den Innenraum. Die Türen schließen sich noch nicht. Henry merkt nicht, wie sich seine Fingernägel in den Handrücken graben, als Nicole, gestützt von zwei Sanitätern, das Polizeiboot verlässt. Sie ist fahl im Gesicht, hat ihre Augen hinter einer dunklen Brille verborgen, die er noch nie an ihr gesehen hat. Vorhin, während der Rückfahrt ist sie noch kaum bei Bewusstsein gewesen, er hat kein Wort mit ihr wechseln können. Jetzt setzt sie langsam einen Fuß vor den anderen, ihre Schritte sind unsicher. Er sieht sie so deutlich, dass er sogar die roten Striemen und Kratzer wahrnimmt, die ihre nackten Arme überziehen. Die drei erreichen die Tür des Krankentransporters. Nicole antwortet einem der Sanitäter etwas, schüttelt den Kopf, setzt die Brille ab. Eine Hand schon am Wagen, wendet sie ihren Kopf und sieht ihn plötzlich direkt an. Er gefriert unter diesem Blick, der alles zugleich auszudrücken scheint. All das, was er selbst in ihr hervorgerufen hat: Liebe, Kummer, Verlustschmerz, Zorn, Unverständnis.
Er wendet seine Augen ab.
Sein Scheitern schmerzt wie nichts, was er kennt. Er hat sie tatsächlich endgültig verloren. Und sich selbst dazu. Nichts bleibt. Welch Ironie, ihrem Vater ein zweites Mal das Leben gerettet zu haben. Doch wenn er nicht gewesen wäre, wäre der, wären sie beide gar nicht erst in Lebensgefahr geraten. Ein feiner Lebensretter ist er! Die Türen der Ambulanz schließen sich. Henry legt sein Gesicht in die Handflächen.
Als die Fahrertür geöffnet wird, hebt er den Kopf.
»So, Herr Sokop, wir bringen Sie jetzt gleich nach Schwerin. Mein Kollege nimmt die Aussage des Bootseigners auf, danach kann es losgehen.« Der Uniformierte dreht sich zu ihm um, grinst jovial. »Noch alles bequem?« Er deutet auf die gefesselten Hände.
Henry antwortet nicht. Durch das Fenster sieht er Sonja, die gerade von einem Mann und einer Frau in Zivil vom Polizeiboot heruntergeführt und in den Polizeitransporter gebracht wird. Sie wehrt sich wie ein bockiges Kind gegen die Berührungen, versucht, die Hände an ihren gefesselten Armen abzuschütteln, verzieht ihr Gesicht zu einer hässlichen Maske des Trotzes. Die Gewissheit, dieser Person, der er liebend gern niemals kennen gelernt hätte, nun wohl nie wieder begegnen zu müssen, flackert in seinem Bewusstsein auf und verlischt wieder, wie ein Streichholz im Wind.
Im Lauf seines einundvierzigjährigen Lebens ist ihm eine unnatürlich geringe Anzahl Menschen begegnet, fällt ihm auf. Ihm fehlen ganze fünfzehn Jahre, in denen andere durch die Welt ziehen, Freunde finden, Kollegen haben, Nachbarn, Urlaubsbekanntschaften, Supermarktkassiererinnen, bei denen sie einkaufen, Hausärzte, die ihren Schnupfen behandeln. Und all die Menschen, die man einmal trifft und danach nie wieder. Sämtliche Begegnungen, die er in den letzten Monaten gehabt hat, waren infiziert von Lügen und Täuschung, von Tod und Wahnsinn. Er starrt auf die Mauer der Menschen, die sich hinter der provisorischen Absperrung drängen. Einheimische, mit denen er nichts gemein hat, Touristen, die ihm fremd sind. Diese Gaffer, die ihn nicht kennen, die er nie kennen wird. Der zweite Polizist steigt ein und der Streifenwagen rollt langsam an der Menge entlang. Da sieht er für einen Moment, der sofort wieder vorüber ist, den GEIST in der Menge, jenen grauhaarigen, betrunkenen Zausel, der ihn so hartnäckig verfolgt hat. Und plötzlich fällt es ihm ein, wer der ist, aus welchem Gestern er stammt.
Es ist wie eine Erinnerung eines Fremden, so als sei dieses Gestern das Gestern eines anderen. Natürlich kennt er ihn, hat mit ihm in seiner ersten Zeit im Strafvollzug zusammen auf derselben Station eingesessen. Ein Wiedergänger aus seinem zweiten, längst abgeschlossen geglaubten Leben. Doch auch dies ist nun, durch die Geschehnisse des heutigen Tages, der letzten, alles unter sich begrabenden Erschütterung, belanglos geworden, eine völlig unwichtige Einzelheit.
* * *
Das Wasser unter ihm schwappt, als würde es dafür bezahlt. Henry ist eine Stunde zu früh auf der menschenleeren Wendorfer Seebrücke. Die Sonne steht in zornigem Orangerot
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