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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Abhandlung sitzen?, fragte sich Clara, als die Wanduhr im Wohnzimmer Mitternacht schlug. Spontan schwang sie die Beine über die Bettkante und ging nach unten, um ihn zu holen.
    »Hör dir das mal an!«, sagte er zu ihr, kaum dass er sie im Türrahmen stehen sah.
    »›Das Damen-Radfahren aus medizinischer Sicht betrachtet: Da die Gesellschaft dem unsittlichen Treiben vieler Xanthippen auf zwei Rädern still zusieht und dabei in Kauf nimmt, dass dieses undamenhafte Gehabe immer weiter um sich greift, ist es an der Zeit, dass wir Mediziner uns laut zu Wort melden. Denn das Radfahren hat für Damen derart gefährliche Folgen, dass man nur strengstens davor warnen kann! Beginnen wir mit der für Damen unziemlichen Art, auf einem Velo zu hocken. Wer denkt wohl, wenn einem der Wind um die Ohren rauscht, daran, dass es dadurch zu schweren Blutansammlungen in der Beckengegend kommt? Menstruationsbeschwerden, das Ausbleiben der Blutung oder eine übermäßig schmerzhafte Regel sind nur einige von vielen Folgen. Oder betrachten wir die katzbuckelige Haltung der Damen auf dem Velo. Allein die Gefahr des Vornüberfallens versetzt sie in einen derartigen Adrenalinrausch, dass dadurch nicht nur deren eigene Gesundheit, sondern auch die ihrer ungeborenen Kinder auf dem Spiel steht! Wen wundert es, dass bei solch einem Schindluder mit der eigenen Gesundheit die Gebärfähigkeit nachlässt? Längst scheint vergessen, wozu Gott die Frauen erschuf – zum Kindergebären, aber gewiss nicht zum Radeln …‹ «
    Wie seine Augen vor Eifer regelrecht glühten! Gerhard hatte so schnell gelesen, dass sich kleine Spuckefäden in seinen Mundwinkeln sammelten, ohne dass er es bemerkte. Während Clara den Ausführungen ihres Mannes lauschte, kämpfte sie gegen die aufsteigende Übelkeit an. Ihre Knie wurden weich, am liebsten hätte sie sich auf den Boden gehockt. Aber der Anstand verbot ihr das. Bleib stehen! Halte dich aufrecht!, befahl eine strenge Stimme in ihrem Inneren.
    »Sehr interessant«, sagte sie mit belegter Stimme, als er zum Ende gekommen war. »Was … gedenkst du mit dieser Arbeit zu tun?«
    Ein kleines Lächeln umspielte Gerhards Mund, als er sagte: »Schon seit Wochen stehe ich in regem Briefkontakt mit einigen meiner Kollegen. Sie arbeiten ebenfalls an diversen Streitschriften gegen das Damen-Velofahren, wir alle zusammen werden unsere Arbeiten bei verschiedenen Berliner Zeitungen einreichen. Es wird höchste Zeit, dass die Öffentlichkeit erfährt, was sich hinter dem unanständigen Treiben dieser … Weiber in Wahrheit verbirgt. Eins sage ich dir hier und jetzt, meine Liebe …« – er schaute sie lauernd an –, »die Tage dieses Damen-Velovereins und seiner Mitglieder sind gezählt, dafür werde ich höchstpersönlich sorgen!«

25. Kapitel
    Anfang 1896
    »Schauen Sie hier, alles Handarbeit! Und da, der Rahmen – Handarbeit. Worauf wir besonderen Wert legen, ist die Schutzvorrichtung gegen Schmutz, alles in Handarbeit geschmiedet!« Der Stolz in der Stimme von Carl Marschütz war nicht zu überhören, während er sein bestes Velo vorführte. Das Gefährt, ausgestellt auf einem Sockel aus poliertem Metall, glänzte im hellen Licht des Verkaufsraums. »Sie müssen wissen, als erste Fahrradfabrik Nürnbergs haben wir in Bezug auf Qualität einen Ruf zu verteidigen. Aber wem sage ich das, als Sohn des EWB -Gründers wissen Sie, wovon ich rede.«
    Adrian nickte angestrengt. Er war seit dem Morgengrauen auf den Beinen. Erst nachmittags um drei war er nach einer anstrengenden Zugfahrt, bei der es immer wieder zu einem Halt auf offener Strecke kam, bei der Velocipedfabrik Marschütz & Co. in Nürnberg angekommen, dabei hatte er sich schon für elf Uhr angekündigt. Bei seiner Ankunft war ihm Carl Marschütz aufgeregt über den verschneiten Hof entgegengekommen. Dass der Mann erst Anfang dreißig war, hatte Adrian in Erstaunen versetzt, aber auch mit Begeisterung erfüllt: Der Mann war nur wenige Jahre älter als er und hatte sich schon solch ein eigenes Unternehmen aufgebaut!
    »Wissen Sie, wie die Leute unsere Marschütz-Räder nennen? Hercules-Räder. Mir gefällt’s! Was meinen Sie, soll ich die Velos offiziell unter diesem Namen anbieten?«
    »Der Name eines Helden der griechischen Mythologie für ein Fahrrad – wäre das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte Adrian stirnrunzelnd.
    »Aber keinesfalls! Ein Velo ist schließlich etwas ganz Besonderes.«
    Adrian atmete tief durch, um seine Ungeduld zu zügeln.

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