Solange am Himmel Sterne stehen
sie.
»Es war die Liste, die du mir gegeben hast«, sage ich. »Die Liste, die mich nach Paris geschickt hat.«
Sie blickt verwirrt, und mir wird klar, dass sie keine Ahnung hat, wovon ich rede. Im Drama des Augenblicks habe ich ihre Alzheimererkrankung fast vergessen.
»Aber es waren auch die Märchen«, fahre ich fort, während sie mich noch immer anstarrt. »Es waren deine Märchen, die uns letztendlich zu ihm geführt haben. Ich wusste nicht, dass sie wahr waren.«
»Sie sind wahr«, murmelt Mamie. Aber sie sieht Gavin an, während sie spricht. »Natürlich. Immer wahr.«
Ihr Blick wandert hinüber zu Alain, und wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Alain?«, sagt sie leise.
»Wie hast du mich nach all den Jahren erkannt?«, fragt er.
»Du … mein Bruder«, sagt sie deutlich. Ihre Sprechweise wird etwas schneller; es ist, als würden die Worte wiederkommen, während sie aufwacht. »Ich würde dich … überall erkennen.«
»Es tut mir leid, dass ich dich nicht früher gefunden habe«, sagt er. »Ich wusste nicht … ich wusste nicht, dass du am Leben bist. All diese vergeudeten Jahre.«
Mamie schließt für einen Moment die Augen. Sie weint wieder. »Ich dachte … du tot«, sagt sie. »In Auschwitz. Dieser Ort. Ich habe mir vorgestellt … viele tausend Male.«
»Ich dachte auch, du wärst tot«, murmelt Alain.
Als Nächstes wendet Mamie ihren Blick Annie zu. »Leona?«, fragt sie.
Annies Schultern sacken nach unten, und ich habe Mitleid mit ihr; ich weiß, wie weh es ihr tut, wenn ihre Urgroßmutter sie nicht erkennt.
»Nein, Mamie«, sagt Annie. »Wer ist denn Leona?«
Aber diesmal ist es Jacob, der antwortet. »Leona war meine kleine Schwester.« Jetzt sieht er Annie gebannt an. »Mein Gott, Annie, du siehst ihr so ähnlich.«
Annie blickt zurück zu Mamie, mit weit aufgerissenen Augen. »Du hast mich monatelang Leona genannt«, sagt sie. »Das ist das Mädchen, das du gemeint hast?«
Mamie blickt verwirrt.
Annie wendet sich an Jacob. »Was ist mit Leona passiert?«
Jacob sieht mich fragend an, und ich nicke leicht. Annie ist alt genug, um es zu erfahren. »Sie ist gestorben, Liebes«, sagt er. »In Auschwitz. Ich glaube, sie hat nicht sehr lange gelitten, Annie. Ich glaube, sie ist friedlich gestorben.«
Annies Augen füllen sich mit Tränen. »Es tut mir leid«, murmelt sie, an Jacob gewandt. »Das mit Ihrer Schwester tut mir wirklich leid.«
Er lächelt sie sanft an. »Ich kann sie in dir sehen«, sagt er. »Und das stimmt mich froh.« Er wendet sich wieder an Mamie und beugt sich zu ihr vor. »Rose, Leona ist vor vielen Jahren gestorben. Aber diese junge Dame hier ist Annie. Deine Urenkelin.« Er hält kurz inne, bevor er sich korrigiert: » Unsere Urenkelin.«
Annie sieht mich scharf an, und mir fällt ein, dass ich es ihr noch gar nicht gesagt habe. Ich habe ihr noch nicht gesagt, dass Jacob Mamie vor vielen Jahren geheiratet hat und dass er der leibliche Vater meiner Mutter ist. Ich ergreife die Hand meiner Tochter und drücke sie fest. »Ich erkläre dir alles später«, flüstere ich. Sie blickt verwirrt und ein bisschen beunruhigt, aber sie nickt.
Mamie mustert jetzt Annie. »Annie«, sagt sie schließlich. Ich kann sehen, wie die Erkenntnis in ihren Augen dämmert. »Die Jüngste.«
»Ja, Mamie«, murmelt Annie.
»Du bist … gutes Mädchen«, sagt Mamie. »Ich bin stolz … Du hast … Geist in dir. Das erinnert mich an … etwas, was ich verloren habe. Gib das … niemals auf.«
Annie nickt hastig. »Okay, Mamie.«
Schließlich wendet sich Mamie wieder an Jacob, der sich noch immer über sie gebeugt hat. »Mein Liebster«, sagt sie leise. »Weine nicht.«
Ich sehe, wie Jacobs Körper vor Schluchzern bebt und ihm Tränen über die Wangen strömen.
»Jetzt sind wir zusammen«, fährt Mamie fort. »Ich habe … auf dich gewartet.« Sie starren sich schweigend an, und es dauert eine Weile, bis mir bewusst wird, dass ich den Atem anhalte.
Ich sehe zu, wie Jacob sich vorbeugt, langsam, sanft, und Mamie auf die Lippen küsst. Dort verharrt er, mit geschlossenen Augen, als wollte er sich nie wieder von ihr lösen. In diesem erstarrten Augenblick werde ich auf einmal lebhaft an ein anderes Märchen erinnert. Er sieht aus wie der Prinz, der Dornröschen nach hundert Jahren Schlummer wachküsst. Mir wird erschreckend klar, dass sie in gewisser Weise fast genauso lange geschlafen hat; siebzig Jahre lang hat sie eine Art halbes Leben geführt.
»Für immer, meine
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