Solange am Himmel Sterne stehen
gewusst. Nicht an dem wunderschönen Tag ihrer Hochzeit.
Das Kleid bestand aus vielen Schichten von hauchzartem Stoff, und sie hatte über einen Monat gebraucht, um es nachts im Dunkel ihres Zimmers zu nähen. Wenn ihre Schwester Hélène sie fragte, was sie da tat, versteckte sie das Kleid unter ihren Decken und fand irgendeine Ausrede. Sie hatte immer geglaubt, dass Hélène es auf irgendeiner Ebene wusste. Und obwohl Hélènes stillschweigende Missbilligung Jacobs an ihr nagte, hatte Rose zugleich das Gefühl, dass ihre Schwester im Dunkel der Nacht insgeheim froh war, dass wenigstens eine von ihnen einen Ausweg aus der Traurigkeit gefunden hatte, die sie alle umgab.
Rose hatte bei ihrer Hochzeit kein Weiß tragen wollen, auch wenn sie natürlich noch unberührt war. Aber Weiß stand für Unschuld, und in Paris war nichts mehr unschuldig.
Und so war sie in ihrem Kleid erschienen, das aus vielen Farben bestand, aus all den Tönungen, die sie an den Himmel in der Morgendämmerung erinnerten, was damals ihre Lieblingstageszeit war. Ein milchiges Blau. Ein zartes Rosa. Ein buttriges Gelb. Ein blasses Apricot. Ein verschwommenes Lavendel. Eintausend Schichten, so schien es ihr, die Rose mit einer Leichtigkeit umgaben, die sie an Wolken erinnerte.
»Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe«, hatte Jacob zu ihr gesagt, als sie ins Zimmer trat. Und so, wie er sie angesehen hatte, hatte sie gewusst, dass er es von ganzem Herzen meinte. Dann hatten sich ihre Blicke getroffen, und in seinen Augen konnte sie all das sehen, was vor ihnen lag: ein gemeinsames Leben irgendwo weit weg von Paris, und Kinder natürlich, viele Kinder. Sie würden lachen und sich Geschichten erzählen und Arm in Arm alt werden. Das Leben dehnte sich in jenem Augenblick endlos und glücklich vor ihnen aus. Und Rose gestattete sich, daran zu glauben.
»Ich liebe dich«, hatte sie ihm zugemurmelt.
Und jetzt, während sie in diesem Meer schwebte, begriff sie, dass es in Wirklichkeit gar kein Meer war, sondern vielmehr die unzähligen hauchdünnen Schichten ihres Brautkleids, die sie mit ihrer Zartheit sanft hielten. Sie sah die Farben, die sie so sorgfältig in Schichten übereinandergenäht hatte, und sie erkannte, dass sie durch jede von ihnen ein klein wenig hindurchsehen konnte. Sie lagen weich an ihrer Haut, genau wie an jenem Apriltag vor so langer Zeit.
Sie lauschte angestrengter, während sie langsam durch die Schichten nach oben schwebte. Und dann, auf einmal, wusste sie es. Sie musste bereits tot sein. Sie wunderte sich, dass sie es nicht schon längst begriffen hatte; es war so offensichtlich. Natürlich, das war der Grund, weshalb sie tagelang Alains Stimme gehört hatte; er rief sie nach Hause, zeigte ihr den Weg durch die seltsam milchige Umgebung, den Weg dorthin, wo ihre Familie die ganze Zeit bereits wartete. Sie war nicht im Himmel gewesen; sie war in dieser seltsamen, schichtenartigen Welt. Aber vielleicht war das hier doch der Himmel. Woher sollte sie wissen, wie die Wolken sich wirklich anfühlten? Vielleicht war das hier der Sonnenaufgang. Vielleicht würde dieses seltsame Meer jeden Augenblick von innen erleuchtet werden.
Und dann wusste Rose ganz sicher, dass sie gestorben war und dass der Himmel echt war, denn sie konnte die Stimme ihres Liebsten hören, die nach ihr rief.
» Reviens à moi .« Jacobs Stimme drang von oben zu ihr herunter. » Reviens à moi, mon amour! Komm zurück zu mir, meine Liebe.«
Rose wollte antworten. Sie versuchte zu rufen: »Ich komme, Jacob!« Aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.
Doch dann spürte sie, wie seine Hand ihre eigene umfasste. Sie wusste sofort, dass es Jacob war; sie würde seine Berührung überall erkennen, auch wenn es fast siebzig Jahre her war, seit sie sie zuletzt gespürt hatte. Seine Hand legte sich so um ihre, wie sie es immer getan hatte: warm, stark, vertraut. Es war die Hand, die sie gerettet hatte, vor so langer Zeit.
Sie wusste, dass er sie an sich zog, nach all den Jahren, und das musste heißen, dass er ihr verziehen hatte, dass sie ihn zurück in den Tod geschickt hatte. Das Herz ging ihr über, und sie spürte Tränen in ihren Augen. Auf nicht mehr hatte sie all die Jahre gehofft.
Sie holte einmal tief Luft, und sie stellte fest, dass das Meer nach Lavendel roch, demselben Duft, den sie an ihrem Hochzeitstag eingeatmet hatte. Sie war zu Hause, endlich zu Hause. Sie hielt Jacobs Hand fest umklammert und begann, endlich an die Oberfläche zu
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