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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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Minuten auf dem Backblech abkühlen lassen, dann auf Drahtgitter legen.

16
    Irgendetwas lief entsetzlich falsch, und Rose wusste es. Den ganzen Nachmittag hatte sie vor dem Fernseher gesessen und sich Wiederholungen von Filmen angesehen, die sie, da war sie sich ganz sicher, schon einmal gesehen hatte. Aber es war egal; sie konnte sich ohnehin nicht an die Handlungen erinnern. Sie war sehr müde geworden, und während sie in ihrem Zimmer saß, war ihr bewusst geworden, dass sie ihren Körper nicht mehr spüren konnte. Und dann war alles schwarz geworden.
    Die Welt war noch immer stockfinster gewesen, als sie kamen, um sie abzuholen; die Leute vom Heim. Rose hörte sie bewusstlos und Schlaganfall und kaum noch am Leben sagen, und sie wollte ihnen mitteilen, dass es ihr gut ging. Aber dann stellte sie fest, dass sie ihre Zunge nicht mehr benutzen und die Augen nicht mehr aufschlagen konnte, und da wurde ihr klar, dass ihr Körper sie im Stich ließ, genau wie ihr Geist. Vielleicht war es an der Zeit.
    Deshalb ließ sie los und driftete weiter zurück in die Vergangenheit. Während die Sirenen des Rettungswagens in der Ferne ertönten, während die Ärzte weit weg irgendetwas riefen und Befehle brüllten, während die leise Stimme eines Kindes nahe ihrem Bett weinte, löste sie ihren Griff um die Gegenwart und ließ sich wie Treibgut auf einer Welle zurück in eine Zeit tragen, bevor die Welt zusammengebrochen war. Auch damals waren Stimmen im Dunkeln zu hören gewesen, genau wie jetzt. Und je weiter die Gegenwart zurückwich, desto mehr rückte die Vergangenheit in den Vordergrund, und auf einmal sah sich Rose im Arbeitszimmer ihres Vaters in ihrer Wohnung in der Rue du Général Camou sitzen. Sie war wieder siebzehn, und sie fühlte sich, als hätte sie eine Kristallkugel und niemand wollte ihr glauben.
    »Bitte«, flehte sie ihren Vater an, die Stimme heiser von endlosen Stunden erfolgloser Überredungsversuche. »Wenn wir bleiben, werden wir sterben, Papa! Sie werden uns abholen!«
    Die Nazis waren überall. Auf den Straßen wimmelte es von deutschen Soldaten, und die französische Polizei folgte ihnen wie die Lemminge. Juden durften nicht mehr auf die Straße, ohne den gelben Davidstern auf die linke Brust genäht zu tragen, ein Zeichen, das sie als anders brandmarkte.
    »Unsinn«, sagte ihr Vater, ein stolzer Mann, der an sein Land und an die Güte seiner Landsleute glaubte. »Nur Verbrecher und Feiglinge laufen davon.«
    »Nein, Papa«, flüsterte Rose. »Nicht nur Verbrecher und Feiglinge. Sondern Menschen, die ihr Leben retten wollen, die nicht blindlings folgen, in der Hoffnung, dass alles gut wird.«
    Ihr Vater schloss die Augen und rieb sich den Nasenrücken. Neben ihm tätschelte Roses Mutter tröstend seinen Arm und sah ihre Tochter an. »Du bringst deinen Vater aus der Fassung, Rose«, sagte sie.
    »Aber Maman!«, rief Rose.
    »Wir sind Franzosen«, sagte ihr Vater knapp, als er die Augen wieder aufschlug. »Sie deportieren keine Franzosen.«
    »Doch, das tun sie«, flüsterte Rose. »Und Maman ist keine Französin. Für die Nazis ist sie immer noch Polin. In ihren Augen ist sie – und sind damit auch wir – Ausländer.«
    »Du redest Unsinn, Kind«, sagte ihr Vater.
    »Diese Razzia wird anders sein«, sagte Rose. Es kam ihr vor, als hätte sie es schon tausendmal gesagt, aber ihr Vater hörte gar nicht auf sie, da er nicht auf sie hören wollte. »Diesmal werden sie uns alle abholen. Jacob sagt …«
    »Rose!«, unterbrach ihr Vater sie. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, und Roses Mutter neben ihm zuckte erschrocken zusammen und schüttelte traurig den Kopf. »Dieser Junge hat eine allzu blühende Fantasie!«
    »Papa, das ist nicht seine Fantasie!« Rose hatte ihren Eltern noch nie Widerworte gegeben, aber sie musste sie dazu bringen, ihr zu glauben. Hier ging es um Leben und Tod. Wie konnten sie nur so blind sein? »Du bist unser Vater, Papa. Du musst uns beschützen!«
    »Es reicht!«, tobte ihr Vater. »Ich werde mir von dir nicht sagen lassen, wie ich meine Familie zu führen habe! Ich werde mir von diesem Jungen, diesem Jacob, nicht sagen lassen, wie ich meine Familie zu führen habe! Ich beschütze euch Kinder und eure Mutter, indem ich mich an die Vorschriften halte. Sag du mir nicht, wie ich als Vater zu sein habe! Du verstehst nichts von diesen Dingen.«
    Rose kämpfte gegen die Tränen in ihren Augen an. Unwillkürlich legte sie die rechte Hand auf ihren Bauch, und dann nahm sie sie

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