Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
trotz der herablassenden Äußerungen, die ich mir anhören muss, freundlich und zurückhaltend. Das bourgeoise Auftreten solcher Gäste gefällt mir überhaupt nicht und sorgt dafür, dass meine Anspannung steigt. Lancer erkennt im Eifer des Gefechts nicht, dass die Schriftstellerin Christa Wolf vor ihm steht. Konsequent bittet er auch sie um ihre Eintrittskarte und zeigt sich völlig unbeeindruckt, als sie ihm ihren Namen sagt. Ich kann ihm noch schnell zurufen, dass er sie selbstverständlich hereinlassen kann, bevor meine Tante diesen Fauxpas bemerkt. Überrascht darüber, dass ich die Dame kenne, lässt mein Buddy Frau Wolf eintreten.
Meine Cousine sagt mir, dass alle Plätze belegt seien. Ich bitte die noch Wartenden daher um etwas Geduld, weil wir erst prüfen müssen, inwieweit man ihnen noch anbieten kann, der Lesung beizuwohnen. Lancer stellt sich in den Eingang, damit sich niemand dreist hineindrängt, während ich mit meiner Tante bespreche, wie wir das handhaben wollen. Letztendlich überlässt sie mir die Entscheidung. Die etwa drei Dutzend Menschen freuen sich, zumindest Stehplätze von mir angeboten zu bekommen. Hinter ihnen schließen Lancer und ich die Türen und sind froh, den anfänglichen Tumult so gut in den Griff bekommen zu haben. Uns beiden fällt lachend das Fußballspiel in Kabul ein, bei dem die Besucher alle irgendwoher eine Eintrittskarte hatten, obwohl das Stadion bereits überfüllt war.
Die erste Hälfte der Lesung ist bereits um, als jemand mit voller Wucht die Eingangstür aufschlägt. Lancer und ich sind sofort alarmiert, doch der Mann, der so stürmisch zur Tür hereinkommt, möchte offenbar einfach den Rest der Lesung mitbekommen. Dieser rüpelhafte Kerl, er mag Mitte vierzig sein und ist recht beleibt, schiebt Lancer mit seiner Körperfülle beiseite und brabbelt dabei etwas Unverständliches in seinen struppigen Bart. Ich stelle mich ihm in den Weg und frage nach seiner Eintrittskarte. Er reagiert mit irrem Gelächter und bezeichnet mich als ignorant. Lancer beobachtet die Situation aufmerksam. Es wäre uns ein Leichtes, den Burschen hochkant rauszuwerfen, aber wir wollen dieser bisher so gut verlaufenen Veranstaltung keine negative Wendung geben. Ich bitte den Mann höflich, aber bestimmt, das Gebäude zu verlassen. Betont langsam und widerwillig folgt er meiner Aufforderung.
Zehn Minuten vor Ende der Lesung, kurz vor dem Signieren, tritt ein großer, hagerer Herr mittleren Alters in die Kirche. Sein schwarzes Haar ist zum Pferdeschwanz zusammengebunden, er trägt einen leicht abgetragenen Anzug aus schwarzem Wollstoff. Auf meinen Hinweis, dass er die Lesung bedauerlicherweise verpasst hat, greift er motzend in seine abgegriffene braune Aktentasche und holt eine Eintrittskarte hervor. Die hält er mir provozierend direkt vor die Augen – so dicht, dass ihm klar sein muss, dass ich sie so nicht lesen kann. Ich wische seinen Arm zur Seite und fordere ihn auf, zu gehen. Ohne Vorwarnung spuckt er mir ins Gesicht und holt mit geballter Faust zum Schlag aus. Da ich seine Spucke ins Auge bekomme und blinzeln muss, wirft Lancer sich sofort in die Bresche und befördert den aggressiven Typen zu Boden. Hysterisch schreit dieser aus Leibeskräften um Hilfe. Er brüllt, dass er von Nazis überfallen werde. Gemeinsam schleifen Lancer und ich ihn nach draußen. Wir wollen den Störenfried an die frische Luft setzen, damit er den anderen Menschen in der Kirche nicht den schönen Abend verdirbt. Obwohl wir zu zweit sind, gestaltet sich das schwieriger als gedacht. Hemmungslos tritt und schlägt der Rowdy am Boden um sich und versucht gezielt, uns am Knie zu treffen. Plötzlich taucht aus einem Gebüsch der Mann auf, den ich eine halbe Stunde zuvor hinauskomplimentiert hatte. Er hat eine kleine Kamera auf uns gerichtet und tritt dicht an uns heran. Wie aufs Stichwort fängt der Krawallbruder, den wir nur durch unser beider Körpergewicht niederhalten können, wieder an, sein Theater abzuziehen, um Hilfe zu schreien und zu behaupten, dass ihn Nazis überfallen. Jetzt reißt mir der Geduldsfaden. Ich springe auf und eile auf den schrägen Vogel mit der Kamera zu, der schnell wieder ins Gebüsch verschwinden will. Lancer bringt mich zur Besinnung: »Mula, bleib hier! Lass ihn gehen.« Mein Buddy brüllt selten, aber wenn er es tut, hat es seinen guten Grund. Während er den Mann unter sich mit einem Judogriff festhält, rufe ich bei der Polizeiwache unter der vereinbarten Notfallnummer an.
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