Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
Durch den Tumult aufmerksam geworden, kommen meine Cousine und meine Tante dazu. Sie können nicht erfassen, wie es zu dieser Situation gekommen ist, und fragen mich, ob es wirklich nötig sei, den armen Mann auf dem kalten Boden liegen zu lassen. Zum Glück kommt in diesem Moment die Polizei, die uns den krakeelenden Schläger vom Hals schafft.
In einem Seitenschiff bereiten wir schnell alles für die Signierstunde vor. Herr Grass setzt sich ruhig an den bereitgestellten Tisch, auf dem sich die Exemplare seines neuen Buches stapeln. Offenbar hat er von dem Ärger, den wir ihm vom Leib gehalten haben, nichts mitbekommen. Während der folgenden Stunde postieren wir uns strategisch günstig, um weitere Zwischenfälle im Keim zu ersticken. Unsere Wachsamkeit erweist sich aber als unnötig. Günter Grass hat es währenddessen nur mit begeisterten Menschen zu tun, die ihm zu seinem Werk gratulieren, und kann mit einem guten Gefühl nach Hause gehen. Auch wir fahren noch am selben Abend nach Hamburg zurück. Unterwegs unterhalten wir uns lange über den ominösen Zwischenfall. Wir vermuten, dass das Ganze ein abgekartetes Spiel war und man uns durch die Provokationen gezielt in die Falle gelockt hat. Glücklicherweise hat Lancer mich und die beiden Aufhetzer mit seiner Besonnenheit vor weitreichendem Schaden bewahrt. Dennoch bekomme ich nach etwa 14 Tagen eine Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung. Das Verfahren wird eingestellt, nachdem ich schriftlich dazu Stellung genommen habe.
Dass meine häufige Aggressivität eine Folge der posttraumatischen Belastungsstörung ist, über deren Diagnose ich so lässig hinweggegangen war, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Die Nächte ohne Schlaf und die ständigen Reizüberflutungen lassen mich vermehrt Adrenalin ausschütten. Es ist eine Folge des erlittenen Schocks. Ich wundere mich nur darüber, dass ich mir nichts mehr merken kann. Nach einem Telefonat kann ich mich oftmals nicht mehr daran erinnern, mit wem ich überhaupt gesprochen habe oder worüber. Die Einschlafstörungen und Albträume halte ich in meinem Fall für normal und ich hoffe einfach, dass sich die Intensität der Träume bald legt. Es wundert mich nicht, dass ich stets müde und unausgeglichen bin, und bringe mich weiterhin mit meiner 50 /50 Mischung Whiskey zum Einschlafen. Natürlich dauert es nicht lange, bis ich Post aus Flensburg bekomme. Ich bin wiederholt aggressiv im Straßenverkehr aufgefallen, sogar im nüchternen Zustand. Mein Punktekonto ist sehr schnell so voll, dass ich zu einer Nachschulung muss.
Innerhalb des Hundezuges habe ich seit Langem nur noch Stress mit den K9ern. So geschieht es beispielsweise, dass ich vor den Augen meiner kleinen Nichte, die mich besucht, einen guten Kameraden, der mich nur im Spaß provoziert, zu Boden drücke und ihm außer mir vor Wut Schläge androhe. Meine Nichte ist total schockiert, mich so zu erleben. Mit meinem Nachbarn streite ich so heftig über einen Grenzzaun, dass ich ernsthaft erwäge, ihm seine Hütte anzuzünden. Überall bekomme ich Schwierigkeiten, beim Einkaufen reicht es schon, wenn ich keinen Parkplatz vor dem Supermarkt finde und dann völlig entnervt und laut schreiend wieder nach Hause fahre. Anfangs begehe ich noch den Fehler, dass ich zu Stoßzeiten einkaufen gehe, dann wird mir schnell bewusst, dass es besser für mich ist, meine Vorräte Samstags am späten Abend zu besorgen, wenn die meisten Menschen bereits vor dem Fernseher sitzen.
Selbst mit meiner Familie gerate ich immer häufiger aneinander. Ich ertrage es nicht, dass sie mit mir immer wieder über meine Gemütsschwankungen diskutieren wollen. Sie können eh nichts daran ändern und würden mich nicht verstehen. Soll ich meiner Mutter erzählen, dass ich eine halbe Flasche Whiskey brauche, um einzuschlafen? Meinem Vater geht meine ständige Gereiztheit sowieso schon längst kolossal auf die Nerven. Er macht mir Vorwürfe, warum ich denn überhaupt vorbeikomme, wenn ich sowieso nicht vernünftig mit ihnen rede. Dann knallen die Türen und ich bekomme zugerufen, dass ich verschwinden soll, weil mein Verhalten alle belastet. Ich will dann meine Mutter nicht weinen sehen, schnappe mir meine Post und verschwinde zurück in die Kaserne. Vorbei sind die Zeiten, als mich meine Mutter an der Tür mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete. Wir telefonieren auch nur noch selten. Diese Situation macht meiner kleinen Schwester Johanna schwer zu schaffen, die nicht
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