Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
topografische Landkarte im militärischen Maßstab 1:50000vor mir auf der Motorhaube aus. Ein kleiner Punkt symbolisiert das Dorf, zu dem wir wollen. An den Höhenlinien um diesen Punkt herum erkenne ich, dass die abgelegene Siedlung sich im Gebirge befindet. Es gibt nur einen Zufahrtsweg, der der dünnen schwarzen Linie zufolge nicht viel besser sein kann als ein schmaler Feldweg. In anderen Bereichen der Karte ist nachträglich per Hand eine Linie mit einem Kugelschreiber neben eingetragenen Wegen eingezeichnet. Das sind die Strecken, die bei Patrouillenfahrten bereits erkundet wurden. Teilweise sind Gebiete schraffiert oder mit einem Kugelschreiber umrandet und mit einem Textmarker farbig gekennzeichnet. Je nach Art der Markierung und Farbe sind es Operationsgebiete noch marodierender Kriegsparteien, Minenfelder oder die Fundorte gewaltsam gestorbener Menschen. Minen und Blindgänger, die einzeln entdeckt werden, können wir anhand von GPS-Daten punktgenau in der Karte vermerken. Dort, wo wir hinfahren, ist jedoch noch gar nichts eingetragen. Wir werden also die erste KFOR-Patrouille sein, die das Dorf besucht.
Während wir einsteigen, fragt mich der Hauptmann, ob der Reservekanister befüllt sei, was ich bejahe. Dann wirft er einen prüfenden Blick auf die Instrumentenanzeige über dem Lenkrad, als ich den Motor anlasse. Hätte die Nadel in der Tankanzeige nicht deutlich angezeigt, dass vollgetankt ist, oder wäre ein technischer Mangel durch ein Warnlämpchen angezeigt worden, hätte er mich ordentlich zusammengestaucht, da bin ich mir sicher. So scheint er von meiner Zuverlässigkeit ausreichend überzeugt zu sein, denn nachdem er unsere Abfahrt per Funk an die Zentrale gemeldet hat, lehnt er sich im Beifahrersitz entspannt zurück und beschäftigt sich eingehend mit dem Studium der Landkarte. Dabei bemerkt er nicht einmal, dass ich erhebliche Mühe habe, uns zügig aus der Stadt Prizren, die wir durchfahren müssen, herauszunavigieren. Es ist Mittwoch, wie üblich ist das Stadtzentrum durch den Wochenmarkt sehr belebt. Statt einer Verkehrsordnung zählen hier das stabilste Auto und die lauteste Hupe, um sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen. Während die Bevölkerung auf KFOR-Fahrzeuge anfangs wie auf einen Polizei- oder Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn reagiert hat, ist inzwischen eine regelrechte Ignoranz an der Tagesordnung. Es kommt immer häufiger zu Unfällen. Erst kürzlich ist einer unserer Transportpanzer über die Motorhaube eines Ladas gerollt, weil der Fahrer sich noch schnell vor dem Panzer auf die Straße drängeln wollte. Die Insassen beider Fahrzeuge kamen mit dem Schrecken davon, aber jeder Unfall muss gleich vor Ort in einem Erfassungsbogen in sechsfacher Ausfertigung minutiös dokumentiert werden. Kurz gesagt ist jede Planung dann im Eimer und der eigentliche Auftrag kann oft nicht mehr am gleichen Tag ausgeführt werden. Ich habe den Eindruck, dass diese bürokratische Achillesferse der Deutschen von oppositionellen Gruppen erkannt worden ist, die durch provozierte Unfälle unsere Tätigkeit gezielt sabotieren wollen.
Dies erklärt für mich die stoische Reaktion des Hauptmanns, als wir in einen Unfall verwickelt werden. Gerade als ich den dichtesten Trubel im Stadtzentrum hinter mir gelassen habe und beschleunige, treibt ein älterer Mann in der für die Landbevölkerung typischen Kleidung eine magere Kuh mit einem kräftigen Rutenhieb vor mir auf die Fahrbahn. Trotz einer Vollbremsung fahre ich das Tier seitlich an. Ich bin total erbost, denn ich habe genau gesehen, dass der Kerl mich wahrgenommen und mir mit voller Absicht sein kränkliches Vieh vor den Geländewagen getrieben hat. Immerhin steht die Kuh noch. Hauptmann Prunder legt die Landkarte auf den Schoß und blickt mich verwundert an. Ich schildere ihm aufgeregt das Geschehene und bin darauf gefasst, dass er mich verantwortlich macht. Zu meinem Erstaunen reagiert er völlig gelassen. »Seit einem dieser Kerle 50DM Schadensausgleich für eine Kuh bezahlt worden sind, versuchen die Halunken es doch immer wieder. Fahren Sie bloß schnell weiter.« Dann widmet er sich wieder der Karte. Ich tue, was er sagt, und fahre mit einem kleinen Schlenker zügig an der Kuh und ihrem erwartungsvollen Besitzer vorbei. Nun ist es an ihm, ein langes Gesicht zu machen. Im Rückspiegel sehe ich, wie er uns ein paar Schritte nachläuft und wild mit der Rute in der Hand wedelnd etwas ruft.
Wir verlassen Prizren und melden uns einige
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