Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
sich fast sicher, dass eine Kugel irgendwo in ihren Eingeweiden steckte, und zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Flucht fühlte sie die blanke Angst in sich aufsteigen. Widerwillig griff sie nach dem Griff der Luke und schlug sie hinter sich zu. Die Verriegelung ächzte aber schnappte schließlich ein. Sofort war der Lärm der Schüsse und der Geräusche der Räder auf den Schienen nur noch gedämpft zu hören.
„Wir sind unterwegs! Sie werden uns nicht kriegen!“, hörte sie Gallea jubeln. Sie brachte nur ein schmerzverzerrtes Krächzen hervor. Dann schloss sie die Augen. Sie spürte die Ruinen von Amsterdam zurückbleiben, während sie das Sangre konzentrierte, und ihr Körper über die weite Ebene zwischen Meer und Land dahinglitt. Die Landschaft krümmte sich und wickelte sich leicht um sie. Sie spürte die salzigen Wellen über die Sandbänke und durch das wiegende Gras auf ihrer Haut rollen, die kühlenden Fluten durchströmten ihre Adern und schwemmten ihre Muskeln. Der Seewind kühlte ihre Stirn, der Schrei von Möwen vertrieb das Prasseln des Kugelhagels aus ihrem Gedächtnis.
Sequana schlug die Augen wieder auf. Die Blutung war gestoppt, ihre Glieder fühlten sich leicht und unverkrampft an. Die Kugel war noch immer irgendwo in ihr, die Selbstheilungskräfte des Sangres hatten ihre Grenzen, doch bis Hamburg sollte sie damit durchkommen. Sie hievte sich auf den Beifahrersitz des Trucks. Die Energiekonzentration hatte sie ausgelaugt. „Fahr du, ich übernehme später“, murmelte sie in Galleas Richtung. Und dann fiel sie in einen ruhigen Schlaf.
65 | NATHAN
„Wie geht es Ihnen, Frau Aden?“
„Es geht schon“, antwortete die Stimme am anderen Ende, „wahrscheinlich habe ich mich bei diesem Schietwetter verkühlt. Aber nichts, was nicht nach einem Tag im Warmen wieder auskuriert wäre.“
„Ich kann mir bei Ihnen nicht vorstellen, dass Sie aus den falschen Gründen krankmachen würden“, entgegnete Coolridge mit seiner tiefen, rauen Stimme, „seien Sie unbesorgt. Aber aus welchem Grund rufen Sie an?“
„Ich habe etwas über einen Klon erfahren, der vor einigen Jahren ins Aljoscha eingeliefert wurde. Können Sie mir sagen, wer der behandelnde Arzt war?“
„Ich weiß nicht, welchen Klon Sie meinen, wir hatten immer wieder mal Krankheitsfälle im Institut. Aber alle diese Fälle in den letzten dreißig Jahren wurden immer von Chefarzt Dr. Kershin übernommen.“
„Kershin? Wirklich?“
„Er ist ein guter Mann, Frau Aden, medizinisch gesehen.“
„Als Mensch ist er hingegen ziemlich ungenießbar.“
„Solange man sich seinen Respekt nicht verdient hat. Zugegeben – er hat manchmal eigenartige Maßstäbe, aber als Arzt ist er unverzichtbar.“
„Danke, Professor, mehr muss ich nicht wissen.“
„In Ordnung“, Coolridge zögerte, „Sie wissen, dass ich Ihnen angeboten habe, offen zu sprechen, Frau Aden?“
„Ich weiß, und das Angebot nehme ich gerne an ... in gewisser Weise, aber ...“
„Entschuldigen Sie, Frau Aden, einen Moment!“, unterbrach er sie, als es an der Tür klopfte.
Sein persönlicher Assistent kam in den Raum. „Sie haben unangemeldeten Besuch, der sie dringend sprechen möchte, Dr. Coolridge.“
„Wer ist es denn?“, erkundigte er sich.
„Er sagt, er ist ein alter Freund von ihnen. Ihr erster Freund.“ Der Assistent sah ihn verwirrt an.
„Der erste, ja?“, Coolridge lachte. „Bitten Sie ihn herein.“
Er schaltete die Verbindung zu Eva wieder frei. „Sagen Sie, Frau Aden, hatten Sie zufällig Kontakt zu jemandem namens Isaak?“
„Er ist auf dem Weg zu ihnen“, entgegnete sie, „und ich werde Sie jetzt in Ruhe lassen und mit Dr. Kershin sprechen.“ Sie brach die Verbindung ab. Coolridge schüttelte lächelnd den Kopf, dann drehte er sich um und fuhr sich mit der Hand über den kahlrasierten Schädel.
„Nathan!“, Isaak schloss die Tür hinter sich und ging auf Coolridge zu, um ihn herzlich zu begrüßen.
„Isaak, es freut mich wirklich, dich zu sehen!“
„Wie laufen die Geschäfte?“
„Setz dich doch erst mal!“ Coolridge deutete auf eine kleine Sitzgruppe aus kleinen, unbequem aussehenden Designersesseln auf der anderen Seite seines Büros, während er selbst zu einer schwarz lackierten Anrichte ging. „Whiskey?“
„Warum nicht“, entgegnete Isaak und setzte sich.
„Bist du hier, um über meine Forschungen zu sprechen?“ Coolridge füllte zwei Gläser mit zwei Fingerbreit Single Malt.
„Auch. Aber mich
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