Soljanka (German Edition)
näherte sich in der Senke dem Wald, in den einige
Hundert Meter weiter rechts ein schnurgerades Bahngleis eintauchte. Er wanderte
auf einem Pfad, der als solcher kaum zu erkennen war, aufs Geratewohl in den
Wald.
Nach einer halben Stunde ziellosen Umherwanderns stand er plötzlich
vor einer Blockhütte. Sie war erstaunlich groß. Stamm schätzte ihren Grundriss
auf fünf mal sechs Meter. Die Balken waren verwittert, aber die Hütte wirkte
nicht baufällig. Keine fünfzig Meter entfernt verlief das Bahngleis. Es war
nicht zu erkennen, ob es noch in Betrieb war. Er näherte sich der Hütte und
erstarrte.
Die Tür hatte sich plötzlich geöffnet, mit einem Knarren, das in der
Stille bedrohlich wirkte. Ein Mann hinkte heraus und blieb vor der Tür stehen.
Unter der russischen Fellmütze erkannte Stamm eine zerfurchte Gesichtslandschaft.
Die Klappe über seinem linken Auge hatte eine beängstigende Wirkung, die noch
dadurch verstärkt wurde, dass der Mann mit beiden Händen ein Gewehr umfasste,
das über einem gefütterten khakifarbenen Parka auf seiner Schulter hing.
»Haben Sie mich erschreckt!«, rief Stamm und fasste sich
theatralisch ans Herz.
Der Alte musterte ihn. »Was wollen Sie hier?«, fragte er
unfreundlich.
»Was ich hier will? Na, ich gehe spazieren. Ist aber mächtig kalt,
muss ich sagen. Ob ich mich in der Hütte mal aufwärmen kann, Herr Oberförster?«
Die Schmeichelei verfing nicht.
»Da drin is nicht geheizt«, sagte der Alte genauso barsch wie zuvor.
»Außerdem Staatsbesitz. Da kann nicht jeder rein.«
»Wer darf denn da rein?«, fragte Stamm. Er hatte seinen Schreck
überwunden. Der Waldschrat wirkte bei näherem Hinsehen eher lächerlich als
bedrohlich. Irgendwie bemitleidenswert.
»Niemand«, erwiderte er trocken.
Stamm sah ihn eine Weile an. Dann sagte er leichthin: »Tja, da kann
man wohl nix machen. Muss ich halt weiter frieren.«
Er wandte sich ab, aber nach zwei Schritten blieb er stehen und
drehte sich wieder um. »Darf ich noch eine Frage stellen?«
Der Alte starrte ihn regungslos an.
»Ich habe drüben in Waren so allerlei über einen Mann namens Dembski
gehört und dass der früher in der guten alten DDR -Zeit
in einer Jagdhütte im Nationalpark allerlei grausame Spielchen getrieben haben
soll. Das ist nicht zufällig die Hütte, von der da die Rede ist?«
Der Alte starrte ihn lange an. »Ich kenne keinen Dembski«, presste
er schließlich hervor.
»Ach, dann sind Sie wohl neu hier. Soweit ich das mitbekommen habe,
kannte jeder hier in der Gegend Dembski.«
Der Alte sagte nichts.
»Stimmt das?«, insistierte Stamm. »Sie sind neu hier?«
Der Alte nahm in einer Art Übersprungshandlung das Gewehr von der
Schulter und hängte es gleich wieder zurück.
»Ich glaube, Sie gehen jetzt am besten«, murmelte er.
Es wirkte unsicher. Dem Mann war offensichtlich bewusst, dass er
kein Argument hatte, um Stamm den Aufenthalt im Wald zu verwehren. Doch Stamm
machte es ihm leicht.
»Hatte ich sowieso vor«, sagte er. »Ich muss allmählich ins Warme
kommen. Dann mal alles Gute!«
Er drehte sich um und stapfte mit einem beklemmenden Gefühl im Bauch
davon.
Nach einer Dreiviertelstunde, in der er sich ein wenig verlaufen
hatte, näherte er sich dem Hof von Bach. In der Abgeschiedenheit des
Nationalparks hatte er Zeit gehabt, sich auf das Gespräch mit Angela Dembskis
Beschützer vorzubereiten, sodass er ohne Zögern auf das Wohnhaus des Anwesens
zulief.
Als er am Stall vorbeiging, hörte er daraus ein gleichmäßiges
Rascheln. Er drehte ab und betrat den verwitterten Bau durch die angelehnte
Tür. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an das Halbdunkel
gewöhnt hatten. Das Rascheln hatte aufgehört. Ein paar Meter entfernt erkannte
Stamm die Konturen eines großen Mannes, der sich auf eine Forke stützte und
offenbar zu ihm herschaute.
»Guten Tag«, rief Stamm. Er trat langsam näher.
Der Mann war einen halben Kopf größer als Stamm, und die wattierte
Arbeitsjacke, die er trug, ließ ihn noch kräftiger wirken, als er vermutlich
ohnehin war. Unter einer schwarzen Wollmütze quollen weißgraue Locken wie
Drahtknäuel hervor. Der Vollbart war dagegen noch fast schwarz. Er ließ Stamm
schweigend herankommen.
»Herr Bach?«, fragte Stamm, als er zwei Meter vor ihm stehen blieb.
Und als der Mann immer noch nicht antwortete, fuhr er fort: »Mein Name ist
Stamm, ich arbeite fürs Magazin. Frau Dr. Terlinden hat mir Ihre Adresse
gegeben.«
Im Hintergrund zermahlte ein
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