Some like it heiß
dreißig Autobahnminuten vom Krankenhaus entfernt.
»Not so fast«, sagte Ma, als ich mit roten Augen in ihrem Krankenzimmer erschien, »I’m not going anywhere.«
Sie war noch nicht so weit. Sie wusste ganz genau, wo sie war, und ich auch. Ich saß neben ihr,sie nahm meine Hand, und zusammen guckten wir ihre Lieblingsshow: »Der Preis ist heiß«.
Für die nächsten fünf Tage klinkte ich mich in einen Kreisverkehr zwischen Krankenhaus, dem Haus meiner Schwester und dem Hilton Garden Inn ein. Unterwegs in einem riesigen SUV, den Shantelle, die Frau am Avis-Schalter am Flughafen, mir empfohlen hatte. Ich nahm den Geländewagen, weil an der Ostküste ein heftiger Wintersturm erwartet wurde, obwohl ich diesen riesengroßen Monstertruck etwas übertrieben fand.
»I’m from Europe, I’m okay with something small.«
»Honey, that
is
small.«
Als drei Tage später ein massiver Blizzard Massachusetts überwältigte, war ich sehr dankbar für Shantelles Rat. Ich wachte verwirrt auf, irgendwo summte der Wecker, und das ewige Parkplatzlicht drang durch mein Fenster. Das Telefon klingelte. Die Stimme meines Bruders. Mein Herz blieb stehen. Jetzt ist es so weit. »Snow day!«, sagte Ralph, immer noch die Freude aus unserer Kindheit in seiner Stimme. Es war sechs Uhr morgens, zwei Meter Schnee waren in der Nacht gefallen. Die Temperatur lag beiminus zwanzig Grad. Er bot an, zum Hotel zu kommen und mich freizuschaufeln, aber es gab einen »state of emergency«, einen Ausnahmezustand im ganzen Bundesstaat. Niemand durfte fahren, die Straßen waren nicht freigegeben. Das Hilton Garden Inn war plötzlich das Hotel California: »You can check out anytime you like, but you can never leave …« Sofort entstand meine innere Liste: Ich muss zum Krankenhaus, zur Apotheke, zum Baumarkt, um eine Schaufel zu kaufen.
»You’re not going anywhere«, sagte mein Bruder. »It’s a snow day.«
Snow days sind wetterbedingte, schulfreie Tage, die oft im Leben einer Massachusetts-Schülerin vorkommen. Cape Cod liegt direkt am Meer und wird oft von Nor’easters getroffen, plötzlich auftretenden mächtigen Stürmen voller Eis und Schnee. Wie meine Familie war auch Massachusetts selten gut vorbereitet auf diese jedes Jahr wiederkehrende Situation und oft völlig überrascht von den immer neuen Stürmen.
Als Kinder klebten wir jeden Wintermorgen am Radio und hofften, dass jemand die Zauberworte »NO SCHOOL, ALL SCHOOLS, ALL DAY« sagte. Dann hatten wir frei – es war einsnow day! Ein Schneetag, an dem man nichts anderes tat, als Schlitten zu fahren und heißen Kakao mit Mini-Marshmallows zu trinken. Ich fühlte mich aber nicht frei, ich fühlte mich gefangen. Meine Mutter lag im Sterben, mein Monstertruck fuhr nicht. Es war mein persönlicher Ausnahmezustand.
Ich ging ins Gym, ein kleines türkisfarben tapeziertes Zimmer ohne Fenster. Ein Laufband, ein Fahrrad und ein großer Fernseher, der nonstop CNN zeigte. Im Raum nebenan gab es ein kleines Schwimmbad mit Whirlpool. Es roch streng nach Chlor, obwohl die Klimaanlage voll aufgedreht war. Als ich auf dem Laufband stand, fing es an reinzuregnen.
Mein Pianist Bene hatte mich auf meinem Handy aus Deutschland angerufen, er hatte im Internet über den Sturm gelesen. Ich war so froh, eine vertraute Stimme aus Berlin zu hören und deutsch reden zu können – es war ein snow day innerhalb meines snow day. Ich schilderte ihm die Lage und erzählte vom Ausnahmezustand. »Das klingt wie ein Stephen-King-Roman«, sagte Bene.
Kurz danach rief meine Schwester an. Sie hatte mit dem Krankenhaus telefoniert, alles warruhig, wir mussten uns heute keine Sorgen machen. Wir konnten uns eine Pause gönnen, ich auf dem Laufband, sie mit einer Bloody Mary in der Hand. In ein paar Stunden würden wir weitersehen.
Ich verließ das Gym Richtung Aufzug und war plötzlich überwältigt vom wunderbaren Duft frischen Popcorns. The Hilton Garden Inn forderte alle Gäste auf, im Haus zu bleiben. Um die geschenkte Zeit angenehmer zu gestalten, gab es kostenloses Popcorn und alle Pay-Per-View-Filme umsonst.
Ich holte mir Popcorn und einen Kakao, schloss mich in meinem Zimmer ein, hängte das DO NOT DISTURB-Schild an die Tür und schaute »Inglourious Basterds«, um ein bisschen Nähe zu Deutschland herzustellen.
Wenn ich in Amerika bin, ist Deutschland mein Telefon-Joker, mein Draht zur Realität – der Luftschutzkeller meiner Seele, wo ich geschützt bin und in Sicherheit. Da wohne ich, da bin ich erwachsen und
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