Somers, Jeff - Avery Cates 01 - Der elektronische Mönch
haben. Was Sie in der Nacht gesehen haben, in der Officer Alvarez ums Leben gekommen ist.« Da war dieses Grinsen wieder, genau wie zuvor. »Ich habe noch versucht, Sie als Erster zu erreichen, aber diese beiden Arschlöcher hatten ja nichts Besseres zu tun.«
Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf und starrte hinüber in die Ecke des Raumes, ganze sechs Schläge meines hämmernden Herzens lang. Dann lastete sein Blick wieder auf mir. Dieser Dreckskerl war schlicht und einfach verrückt.
»Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was Sie gesehen haben«, erklärte er fröhlich und drehte sich zur Seite. Plötzlich wurde das Licht gedämpft, und eine der grauen Wände des Raumes begann zu glimmen: ein Vid. Anfänglich schmerzte das grelle Leuchten in meinen Augen, aber ich war dankbar, dass sich die Szenerie hier wenigstens etwas änderte.
»Sie haben gesehen, wie ein Mönch ein neues Mitglied anwirbt – indem er einen Menschen tötet. Der Mönch hat ihn erschossen und hätte den Leichnam innerhalb weniger Augenblicke fortgeschafft. Am nächsten Tag wäre das Opfer dann als Mönch wieder aufgetaucht – glücklich, zufrieden und mit einer großartigen Geschichte, welche Erleuchtung ihm doch gekommen sei. Genau das ist die Vorgehensweise der Cyber-Kirche.«
Der Bildschirm flackerte, dann erschien darauf ein Diagramm: zahllose langweilige Würfel und Gitternetzlinien.
»Die Cyber-Kirche ist die schnellstwachsende Organisation der Welt. Derzeit wächst ihre Mitgliederzahl so rasch an, Mr Cates, dass die Cyber-Kirche derzeitigen Schätzungen zufolge innerhalb der nächsten fünf Jahre die größte Religionsgemeinschaft der Welt sein wird. Und in acht Jahren die einzige.«
Erstaunt kniff ich die Augen zusammen. Beinahe hätte ich sogar den Mund geöffnet, doch da wirbelte Marin schon wieder zu mir herum; seine Haut schien im Halbdunkel des Raumes beinahe zu leuchten, und die Gläser seiner Sonnenbrille wirkten jetzt pechschwarz. »Ich weiß. Eine Religion, die vor sieben Jahren noch nicht einmal existiert hat, soll innerhalb von zehn Jahren die ganze Welt erobern? Unglaublich! Liegt das daran, dass die Vorstellung, man könne durch die Ewigkeit die Erlösung erlangen, so verführerisch ist? Nein, Mr Cates. Die Cyber-Kirche wächst so rasch, weil sie neue Mitglieder mit Gewalt rekrutiert. Jedes neue Mitglied wird zunächst ermordet, dann einer ausgiebigen Operation unterzogen, und danach steuern sie jegliches neue Mitglied über fest verdrahtete Schaltungen.«
Plötzlich stand Marin wieder direkt vor mir und beugte sich herab. »Mit anderen Worten, Cates, ich glaube, im Inneren der weitaus meisten Mönche befindet sich der entsetzte, gequälte Verstand eines echten Menschen – eines Menschen, der wie eine Marionette geführt wird. Und der Verstand dieses Menschen kann nur hilflos vor sich hin stammeln. Ich glaube, Dennis Squalor ist möglicherweise der schlimmste Massenmörder in der gesamten Menschheitsgeschichte. Schlimmer noch …« Er lehnte sich wieder zurück und lächelte. »Schlimmer noch, Mr Cates, ich glaube, wenn wir nicht rasch etwas unternehmen, werden dem SSD gegenüber der Cyber-Kirche schon bald die Hände gebunden sein. Mir werden die Hände gebunden sein. Und das passt mir nicht.«
Ich räusperte mich. »Dennis …«, brachte ich gerade noch hervor, und Dick Marin wurde noch lebhafter; er sprang auf, als die Vid-Wand klickte und anstelle der Grafik ein Bild erschien – alt und grobkörnig, offensichtlich aus einiger Entfernung aufgenommen.
»Dennis Squalor«, sagte Marin klar und deutlich, während er weiterhin auf und ab ging, »Gründer und Oberster Prophet der Cyber-Kirche. Er erinnert mich ein wenig an Sie, Mr Cates. Auch über ihn existieren nicht allzu viele Informationen, zumindest ab seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr – damals ist die Vereinigung gelungen, und er ist verschwunden. Aufgetaucht – zumindest in einigen Akten – ist er erst wieder, als die Cyber-Kirche beim System offiziell um die Anerkennung als Religionsgemeinschaft ersucht hat. Die Cyber-Kirche steht als anerkannte Religion unter dem Schutz des Staates, und damit ist Squalor ziemlich effektiv isoliert. Natürlich weiß ich mehr über ihn. Ich weiß alles, aber das unterliegt einer restriktiven Informationspolitik … und Sie brauchen das nicht zu wissen.«
Er wirbelte herum und sprang mir fast auf den Schoß. »Stellen Sie sich doch einmal vor, Mr Cates – Sie waren ja dabei, also dürfte es Ihnen nicht allzu
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