Sommer der Entscheidung
feucht von dem Sommernebel, der vom Tal aufstieg, und im nächsten Augenblick schoss Regen vom Himmel und ging über sie hinweg wie ein Fluss, der dem Meer entgegenströmt.
„Regen!“, jubelte Helen. „Endlich Regen!“
Nancy dachte an ihre Frisur, die sich direkt auflöste und in nassen Strähnen an ihrem Kopf klebte. Sie dachte an die frische Leinenbluse, die jetzt wie ein Putzlappen an ihrem Körper hing, die sorgfältig gebügelte Hose, die nur chemisch gereinigt werden durfte, an die Wimpertusche, die in kleinen Bächen ihre Wangen hinunterlief.
Sie streckte die Hände zum Himmel. „Regen!“ Bevor sie wusste, was sie tat, ließ sie ihre Schaufel fallen, stürzte nach vorn und packte die Hand ihrer Mutter. „Regen.“
Sie fing an zu tanzen.
„Hör auf. Hör sofort auf damit!“, befahl Helen. Aber sie machte sich nicht von ihrer Tochter los.
„Tessa?“, Nancy streckte die Hand aus. „Komm her, wir machen einen Regentanz.“
Tessa stand wie angewurzelt an ihrem Platz und starrte ihre Mutter und Großmutter an.
„Das ist ein Befehl“, sagte Nancy bestimmt. „Beweg deinen kleinen Hintern sofort hierher und tanz mit deiner Mutter und deiner Großmutter.“
Tessa bewegte sich so langsam, als hätte sie den Verdacht, sie sei in ein Irrenhaus geraten. Trotzdem nahm sie Nancys Hand.
„Du bist diejenige, die die Männer in den weißen Anzügen braucht“, stellte Helen fest.
„Regen, Regen!“ Nancy begann die beiden hin und her zu ziehen, nach vorn und nach hinten. „Beine hoch, meine Damen. So!“ Sie machte eine Schrittkombination vor, die sie in einem Fit&Schlank-Aerobic-Kurs gelernt hatte.
„Mama, du benimmst dich wirklich seltsam“, sagte Tessa. Aber sie machte es ihr nach und schmiss die Beine in die Höhe, wenn es so weit war.
Helen wollte loslassen, aber Nancy ließ das nicht zu.
„Komm schon, Mama, du kannst das. Wann hast du das letzte Mal getanzt?“
„Das geht dich nichts an.“
„Tanz mit uns – jetzt.“
Helen räusperte sich, aber sie fing an, sich zu bewegen Zögerlich, widerwillig – aber immerhin, sie bewegte sich.
Der Regen wurde stärker. Tessa zog sie nach rechts, und sie drehten sich um die nutzlosen Löcher, die sie gegraben hatten, hüpften hin und her zwischen Kuhlen und Bäumen und tanzten so, höchstwahrscheinlich jedenfalls, auf einem Teil von Helens Ersparnissen.
„Regen!“, rief Nancy noch einmal. „Lieber Gott, danke für den Regen!“
„Das ist das erste echte Gebet, das ich seit langer Zeit von dir gehört habe“, stellte Tessa fest.
Erschöpft hörten sie endlich auf und standen in einem kleinen Kreis. Tessa ergriff die andere Hand ihrer Großmutter und die drei triefenden Frauen, alle durchnässt bis auf die Knochen, starrten sich durch regenverhangene Wimpern an.
„Wir finden das Geld, Gram“, sagte Tessa schließlich.
„Ich brauche es nicht mehr, dort, wo ihr mich hinschickt.“
Nancy tat etwas, das sie vermutlich seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. Sie schlang die Arme um ihre Mutter und drückte sie fest an sich. Ihre nassen Sachen klebten aneinander und das Wasser rann ihnen die Beine hinunter. „Niemand schickt dich irgendwo hin“, hielt sie fest. „Wir treffen unsere Entscheidungen gemeinsam, Mama.“
Helen runzelte die Stirn und nickte. Aber dieser Wolkenbruch wischte auch ein Stirnrunzeln schnell hinweg.
Für einen Moment, einen sehr kurzen Moment, legte auch Helen ihre Arme um ihre Tochter. Und für einen noch kürzeren Moment drückte sie sie an sich.
Dieses E-Book wurde von "Lehmanns Media GmbH" generiert. ©2012
11. KAPITEL
T essa erinnerte sich nicht mehr an den Zeitpunkt, an dem ihr Leben anfing, sich um Mütter gegen Alkohol am Steuer zu drehen. Nach Kayleys Tod war sie nie zu einer Selbsthilfegruppe gegangen, aber sie hatte sich seither auf allen anderen Ebenen engagiert.
Sie hatte ihre Tätigkeit als ehrenamtliche Mitarbeiterin damit begonnen, Restaurants in ihrer Nachbarschaft zu bitten, der Northern Virginia Allianz für verantwortungsbewusste Autofahrer beizutreten. Sie überredete einige von ihnen, kostenlos alkoholfreie Getränke auszuschenken, und sprach mit den Gästen an den Tischen, um wenigstens eine Person davon zu überzeugen, auf das Trinken zu verzichten und die anderen nach Hause zu fahren. In einigen Restaurants war sie immer noch kein gern gesehener Gast, weil die Wirte sich von ihr unter Druck gesetzt fühlten.
Danach nahm sie an einem Kursus für Verhandlungsbeobachter teil und
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