Sommer der Entscheidung
verfolgte viele Fälle, in denen es um Trunkenheit am Steuer ging. Ihre Aufgabe war es, die Urteile den regionalen und nationalen Arbeitsgruppen mitzuteilen. Mittlerweile kannten viele Richter ihren Namen, obwohl sie als Dozentin weitere Gerichtszeugen unterrichtete und kaum noch selbst in Erscheinung trat.
Sie organisierte Podiumsdiskussionen mit Verkehrsopfern, besuchte Einkaufszentren, in denen sie rote Schleifen verteilte und Touristen davon überzeugte, nicht zu trinken und dann zu fahren. Sie besorgte Gebrauchtwagen, die der Organisation gespendet wurden, um die ganzen Aktivitäten durchführen zu können. Aber alle wussten, dass Tessas wichtigster Beitrag darin bestand, sich um die Verwaltung zu kümmern. Sie hatte ein besonderes Talent, Fördergelder zu akquirieren und Anträge zu schreiben. Sie konnte Telefonkettenorganisieren, Webseiten erstellen und im Handumdrehen Serienbriefe über das Internet versenden.
Die Sorgfalt, mit der sie sich sonst um ihre Familie und ihre Schüler gekümmert hatte, floss nun in Telefongespräche und Aktenordner, aber dabei hatte sie nur wenige Freunde gefunden.
„Tessa! Hast du jemandem Bescheid gesagt, dass du heute Nachmittag kommst?“ Sandy Steward, die dunkelhaarige, hellhäutige Programmleiterin der Regionalgruppe umarmte Tessa stürmisch, als sie das Büro des Komitees betrat. Es war Tessas erster Ausflug in die Stadt nach drei Wochen in Toms Brook.
„Ich hatte eigentlich gar nicht vor zu kommen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich dich hier noch antreffen würde.“
Tessa klopfte Sandy auf die Schulter und trat einen Schritt zurück. „Aber ich hatte etwas bei der Bank zu erledigen und musste hier in der Gegend einkaufen.“
„Hast du noch Zeit?“ Sandy sah auf die Uhr. „Wenigstens, bis ich hier den Laden dichtmachen kann? Wir könnten zu Starbucks gehen und einen Milchkaffee trinken.“
„Ich hatte vor, mein Postfach zu kontrollieren und zu gucken, ob ich noch etwas zu erledigen habe. Ich werde eine Weile hier sein.“
„Sag mir einfach Bescheid, wenn du fertig bist, dann mache ich hier zu.“ Sandy ging zurück zu ihrem Schreibtisch. Das Büro war sehr klein, und Sandy hatte mit ihren ein Meter zweiundachtzig Schwierigkeiten, nirgendwo anzustoßen. Es war spät am Nachmittag, und die anderen Kollegen waren schon nach Hause gegangen.
Tessa holte ihre Post aus dem Fach und war überrascht, wie viel sich in ihrer Abwesenheit angehäuft hatte: Artikel, die am Rand mit Bemerkungen versehen waren, Notizenund Rundbriefe. Wahrscheinlich war nichts davon wirklich dringend. Die Hauptamtlichen und auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter wussten, dass Tessa über den Sommer fort sein würde. Für Notfälle hatten sie ihre Mobilnummer, falls sie dringend Informationen oder einen Rat brauchten. Indem sie jetzt den Stapel durchsah, machte sie nur Platz für die nächste Post.
Tessa fiel plötzlich auf, dass sie schon die ganze Zeit einen rosafarbenen Notizzettel angestarrt hatte. Vielleicht suchte sie einfach nur Ärger, wenn sie Mack heut Abend sah, aber war sie wirklich in der Lage, eine Ehe aufzugeben, die sie einst für fast ideal gehalten hatte? In den letzten drei Jahren hatte sie eine Reihe von Mechanismen entwickelt, mit Kayleys Tod umzugehen. War dies noch ein weiterer? Ohne Ehemann keine Erinnerung an den schmerzhaften Verlust der Tochter?
Sie legte die Notiz auf den Stapel mit den Dingen, die sie später erledigen würde. Doch dann stellte sie fest, dass sie den Inhalt noch immer nicht wahrgenommen hatte. Sie nahm den Zettel wieder vom Stapel herunter und zwang sich, ihn noch einmal zu lesen. Die Stirn runzelnd, zog sie das Telefon, das auf dem Tisch stand, näher zu sich heran und wählte die Nummer auf einer freien Leitung. Sie nahm den Hörer ab.
Mack war sich nicht sicher, warum er gerade dieses Restaurant für das Dinner mit Erin ausgesucht hatte. Siam Palace gehörte zu Tessas Lieblingsrestaurants, und sie wohnten in der Nähe, so dass sie oft zum Essen herkamen. Kayley hatte thailändisches Essen nie gemocht, daher hatte er nur wenige Erinnerungen daran, hier zu dritt mit ihr gewesen zu sein. Aber dieser Ort roch förmlich nach Tessa.
Er fragte sich, ob er tatsächlich so starke Sehnsucht nachseiner Frau empfand, dass er – sogar mit einer anderen Frau – herkam, um ihr näher zu sein. Das schien ihm pervers oder wenigstens sehr ungewöhnlich, aber Mack konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, dass es nicht stimmte. Allerdings war er sich
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