Sommer in Maine: Roman (German Edition)
ihn nochmal anzurufen. Stattdessen setzte sie sich an den Tisch und schaltete den Computer ein. Onkel Pat hatte das Sommerhaus im letzten Sommer mit W-LAN ausgestattet, obwohl es noch immer weder Fernsehen noch Telefon gab.
Nachdem sie die E-Mail geschrieben hatte, las sie sie nicht einmal durch. Sie klickte nur auf SENDEN.
Gabe,
es gibt zwei Dinge, die ich dir sagen will, und die ich gerade am Telefon irgendwie nicht rausgebracht habe. Erstens, dass ich jetzt endgültig begriffen habe, dass du mir überhaupt nicht gut tust. Ich danke dir, dass du mir die Erkenntnis diesmal ordentlich eingehämmert hast. Das habe ich offenbar gebraucht. Zweitens (und ich gebe zu, dass diese Neuigkeit das Erstens etwas verkompliziert): Ich bin schwanger. Wenn ich an das Kind denke, betrachte ich es eigentlich ganz und gar als meines, aber mir ist klar, dass er oder sie theoretisch auch dein Kind ist. Du verdienst, es zu wissen, und deshalb sage ich es dir jetzt. Viel mehr als das verdienst du, meiner Meinung nach, nicht. Bitte lass mich jetzt erstmal in Ruhe. Ich melde mich, wenn ich soweit bin.
Alice
N ach dem Essen ging Alice auf die Veranda und rief Ann Marie an: »Deine Nichte ist heute angekommen, aber ohne Gabe.«
»Ach wirklich?«, antwortete Ann Marie geistesabwesend, als wäre es ihr ganz egal.
»Stattdessen ist sie mit einer Frau hier«, sagte Alice.
»Was soll das heißen, mit einer Frau?«, fragte Ann Marie.
»Angeblich wohnt sie in New York in der Wohnung nebenan«, flüsterte Alice, als wäre Daniel noch da und könnte sie jeden Augenblick dafür zurechtweisen, mit ihrer Schwiegertochter die Gerüchteküche anzufachen.
»Wie, eine Geliebte?«, sagte Ann Marie. »Augenblick mal, Mama. Kannst du das im anderen Zimmer gucken, Pat?«
Alice war gar nicht auf die Idee gekommen, dass Maggie und dieses andere Mädchen, wie auch immer sie hieß, auf diese Art verbunden sein könnten. Nein, so war es ganz bestimmt nicht. Andererseits wusste Alice, dass sie bei solchen Sachen ziemlich unbedarft war. Einmal hatte sie zu Daniel gesagt, wie nett sie es fand, dass man in Ogunquit so viele Bruderpaare Arm in Arm sähe. Er hatte gelacht wie eine Hyäne.
Jetzt antwortete sie: »Ich weiß nicht genau, in welcher Beziehung sie zueinander stehen, aber seltsam ist es auf jeden Fall. Maggie lässt sich von dem Mädchen herfahren, und dann sagt sie, dass ihre Freundin noch heute wieder zurückfährt. Aber ich bin ja nicht blind. Es ist ganz offensichtlich, dass sie noch nicht abgereist ist.«
»Komisch.«
»Kathleen hat dieses Kind vollkommen vermurkst. Ach, ich wünschte, ich hätte etwas dagegen tun können, denn jetzt ist es wohl schon zu spät.«
Alice hatte sich noch nicht von dem unerhörten Gespräch beim Abendessen erholt, aber sie wollte Ann Marie gegenüber nicht ins Detail gehen.
»Du lädst dir zu viel Verantwortung auf, Mama«, sagte Ann Marie. »Da hättest du gar nichts tun können. Ich bin in letzter Zeit zu der Erkenntnis gekommen, dass Kinder sich einfach so entwickeln, wie sie sich eben entwickeln.«
»Tja, Gott sei’s gedankt, dass aus euren was geworden ist«, sagte Alice.
»Auch unsere drei haben ihre Schwächen.«
Es waren genau solche Kommentare, die Ann Marie so liebenswert machten, denn in Wirklichkeit waren ihre Kinder doch wahre Engel. Vermutlich hatten sie sich so gut entwickelt, weil Ann Marie schlechtes Benehmen in keiner Situation toleriert hatte, wozu beide Töchter von Alice im Umgang mit ihren Kindern leider neigten. Alice hatte Christopher und Maggie seit ihrem allerersten Babygeburtstag jedes Jahr zwanzig Dollar geschickt. Aber hatte einer von ihnen sich je die Mühe gemacht, sich dafür zu bedanken?
Auf die Geburtstagskarte von Daniel Junior konnte Alice sich verlassen, und zum Muttertag schickte er ihr sogar Blumen. Was für ein gutaussehender junger Mann er doch war, ihr Liebling. Er hatte Köpfchen, genau wie sein Vater, und war mittlerweile mit einer reizenden jungen Schönheit verlobt. Gott sei Dank eine Katholikin. Sie war italienischer Abstammung, nicht irischer, aber das war eben nicht zu ändern.
Seine Schwester Fiona war eine wahre Heilige. Wenn sie in Alices Generation aufgewachsen wäre, wäre sie Nonne geworden. Aber vielleicht würde sie den Lebensweg auch jetzt noch einschlagen. Als Kind hatte Alice Nonnen verabscheut. Sie hatten ihr auf die Finger geschlagen und sie dazu gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben, indem sie ihr die linke auf den Rücken banden. Dabei
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