Sommer in Maine: Roman (German Edition)
heut Abend!«, sagte sie noch und kniff Alice in die Wange.
Alice verbrachte den ganzen Nachmittag damit, sich schick zu machen, aber alleine machte das nur halb so viel Spaß. Doch als sie endlich fertig war, fühlte sie sich wie eine Königin. Das silberne Seidenkleid, das sie für diesen Abend ausgesucht hatte, fiel ihr weich über die Taille und sammelte sich um ihre Füße, wobei es praktischerweise ihre abgewetzten Schuhspitzen bedeckte. Das Kleid gehörte Mary und war ihr eigentlich zu groß, deshalb hatte sie sich ein blaues Band um die Taille gebunden, um ihre Formen zu betonen. Sie trug Marys Nerzmantel und dazu die Lieblingshandschuhe ihrer Schwester aus mit Nerz gefüttertem grauem Wildleder. Der Mantel war ein Geschenk von Henry, aber Mary trug ihn fast nie. Wer’s findet darf’s behalten , dachte Alice. Es war Winter, und irgendjemand musste doch etwas von dem Mantel haben.
Von ihren eigenen Kleidern hätte sie keines ins Cocoanut Grove anziehen können. Dort trug man Abendgarderobe, und sie würde da ganz bestimmt nicht in einem ausgedienten, mit einer falschen Perlenkette aufgemotzten Kleidchen aufkreuzen, wie ihre Mutter vorgeschlagen hatte. Ihre Brüder hatten sie eingeladen. Ein Schiffskamerad von Tim hatte einen älteren Bruder, Daniel, der zum Holy Cross College gegangen war und für eine Woche vom Pazifik auf Heimaturlaub war. Timmy hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass der Bruder seines Kameraden eine seiner Schwestern heiraten solle.
Schon seit Monaten schwärmte er Alice in seinen Briefen von Daniel vor, und das, obwohl Daniel nicht zum Boston College gegangen war. Er sei zuvorkommend, humorvoll und sehr intelligent. Er habe neun Geschwister und die Geduld eines Heiligen. ( Genau das Richtige für eine Nervensäge wie dich , hatte Timmy geschrieben . )
Alice hatte geantwortet: Wenn er dir so gefällt, dann heirate ihn doch selber.
Sehr witzig , hatte Timmy geantwortet. Komm am Monatsende einfach mit zum Baseballspiel, und wir suchen uns danach noch ein nettes Tanzlokal.
Alice hatte nicht vor, den jungen Mann in der Eiseskälte bei einem Baseballspiel kennenzulernen, also hatte sie mit den Jungs abgemacht, sie danach im Cocoanut Grove zu treffen. Sie hatte dem Ganzen natürlich nur zugestimmt, weil sie eine Ausrede brauchte, um mal wieder auszugehen.
Alice war in dem Lokal schon zweimal gewesen. Einmal, als Joe Frisco aufgetreten war und einmal, um Helen Morgan zu sehen. Es hatte ihr dort gleich gefallen. Im Erdgeschoss stand eine lange, ovale Bar neben der Bühne, und zwischen den mit weißem Leinen bedeckten Tischen war eine große Tanzfläche. Am Rand wiegten sich künstliche Palmen und überall im Saal waren kleine Lichter verteilt. Im Sommer wurde das Dach weggerollt, und man konnte unter den Sternen tanzen.
Pünktlich um halb acht trat Alice wie ein Filmstar durch die Drehtür. Sie hatte den knallroten Lippenstift aufgelegt, den Tante Rose ihr vergangenes Weihnachten aus New York geschickt hatte, und ihr Haar lag in sanften Wellen, wie das von Veronica Lake in Sullivans Reisen .
Im Lokal drängten sich die Gäste dicht an dicht: Dutzende gutaussehender, uniformierter Männer standen neben eleganten Frauen in ihren besten Abendkleidern. Der Laden war brechend voll, die Tische alle besetzt. Alice drängte sich auf der Suche nach ihren Brüdern durch die Menge. Sie gelangte zu einer Stelle, von der aus sie die Tanzfläche überblicken konnte, aber ihre Brüder waren nirgends zu entdecken. Um nicht dumm herumzustehen, führte sie dann ein viel zu langes Gespräch mit dem Rotschopf an der Garderobe. Wirklich besonders kalt da draußen heute. Traurige Sache mit dem Baseballspiel und ob Alice schon gehört habe, dass das Boston College Team heute hier ihre Siegesfeier hatte feiern wollen und jetzt abgesagt hatte, was wirklich jammerschade sei, weil der Rotschopf doch so für den Fullback schwärmte.
Als sie nochmal zur Tanzfläche ging und nachschaute, waren die Jungs immer noch nicht da. Also stand sie alleine an der Bar, kam sich wie ein Vollidiot vor und schwor sich, ihre Brüder zu ermorden, sobald sie sich zeigten. Sie wedelte mit Marys Handschuhen herum, bis ihr bewusst wurde, dass sie ihre Nervosität damit verriet. Also legte sie die Handschuhe auf die eichene Bar, strich über das Wildleder und zählte die Minuten.
Es war zehn vor acht, als sie endlich eintrafen, stockbesoffen und mit zwei jungen Männern im Schlepptau, die Alice nicht kannte. Alices Brüder waren
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