Sommer in Maine: Roman (German Edition)
große, muskulöse Männer mit dunklen Augen und schwarzem Haar. Im Vergleich dazu waren die beiden, die sie mitgebracht hatten, wahre Vogelscheuchen: Sie waren klein, dürr, hatten Haar wie rotes Stroh und füllten ihre Uniformen kaum aus.
»Da ist sie ja!«, brüllte Alices Bruder Paul so laut, dass sich trotz des Lärms in dem Lokal einige Leute umdrehten.
»Ihr seid viel zu spät«, fauchte sie, als sie bei ihr waren. »Ich warte schon eine Ewigkeit.«
»Na, übertreib mal nicht«, sagte Paul. »Das waren höchstens ein paar Minütchen. Außerdem hättest du an uns keine Freude gehabt, bevor wir uns ein bisschen die Kehle angefeuchtet hatten. Tim hat richtig geheult!« Alle stimmten in sein rauhes Gelächter ein.
In diesem Augenblick überfiel Alice, wie so oft in letzter Zeit, wieder die Tatsache, dass Krieg war, dass ihre Brüder an der Front gewesen waren und, wie die meisten der jungen Männer um sie herum, bald wieder in den Krieg ziehen würden. Sie hörte mittlerweile fast täglich, dass ein weiterer der Jungen, mit denen sie aufgewachsen war, nicht wiederkehren würde. Und trotzdem regten ihre Brüder sich noch über ein Baseballspiel auf und machten sich für einen Tanzabend extra schick. Das Leben machte für nichts und niemanden Halt.
Eine der zwei Vogelscheuchen streckte ihr die Hand entgegen: »Daniel Kelleher«, sagte er. »Ist mir eine Freude.«
Ob er gut aussehe, hatte sie ihren Bruder Timmy beim Thanksgivingabendessen gefragt, und der hatte gelacht, bevor er antwortete: »Er sieht aus wie Clark Gable, okay?«
Jetzt begriff sie, dass das ein Scherz gewesen war.
»Möchtest du was trinken?«, fragte die Vogelscheuche. Alice verlangte einen Gin Tonic.
Als Daniel sich auf die Jagd nach dem Barkeeper begab, packte Alice Timmy beim Ärmel.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, zischte sie.
»Wovon redest du?«, sagte er.
»Der ist ja wohl ein absoluter Blindgänger!«
»Jetzt sei nicht so ein Snob und gib ihm eine Chance.«
Ein paar Minuten später kam Daniel mit einem Glas klarer Flüssigkeit zurück.
»Die Zitronen sind ihnen gerade ausgegangen. Vielleicht ins Kino oder so.«
Sollte das ein Witz sein? Das war ja wohl das letzte. Alice nahm ihm das Glas aus der Hand und wandte sich den anderen zu, um allen, vor allem Daniel, zu zeigen, dass sie absolut kein Interesse hatte.
»Unsere Brüder sind wirklich schlechte Verlierer«, sagte Daniel lachend. Alices Augen verengten sich zu Schlitzen. Er hatte auch seinen kleinen Bruder gemeint, dennoch gefiel es ihr überhaupt nicht, dass er so von ihren Brüdern sprach.
»Tja, die Holy Cross Crusaders darf man eben nicht unterschätzen«, fuhr er strahlend fort. »Fünfundfünfzig zu zwölf. Na, wie fühlt sich das an, Jungs? Das muss wehtun.«
»Es gibt auch schlechte Gewinner«, sagte Alice und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.
»Hoppla!«, sagte Timmy. »Kümmer dich nicht drum, Daniel. Sie ist nur ein bisschen sauer auf uns.«
»Nein, nein, Alice hat ganz recht«, sagte Daniel grinsend. »Das war nicht besonders taktvoll von mir.«
»Jedenfalls schulde ich dir jetzt ein Bier«, sagte Timmy.
»Du schuldest mir mehr als ein Bier, aber das besprechen wir, wenn deine Schwester nicht dabei ist«, sagte Daniel und lachte leise.
Alice leerte ihr Glas. »Noch einen Gin Tonic, Timothy«, sagte sie. »Mir schuldest du auf jeden Fall was zu trinken.«
Timmy ging die Getränke holen, und zwischen den anderen entspann sich ein Gespräch über Baseball.
Daniel wandte sich ihr zu: »Du arbeitest in einer Anwaltskanzlei, hab ich gehört. Das muss ja sehr interessant sein.«
»Geht so.«
»Ach, komm schon. Es muss doch Spaß machen, die Ordner voll saftiger Skandale auf dem Schreibtisch zu haben und sich das in aller Ruhe durchzulesen. Zu sehen, wer heute wieder wen weswegen verklagt und so.«
Sie legte den Kopf auf die Seite. So hatte sie das noch nie gesehen, und es war gar keine schlechte Idee, ihre Arbeit von dieser Seite zu betrachten.
»Ich spare für eine Reise nach Paris, wenn der Krieg vorbei ist«, sagte sie, und das war ja auch fast wahr. »Ich werde mal Malerin. Naja, das will ich jedenfalls.«
»Es ist gut, sich seine Kinderträume zu bewahren, sagt meine Mutter.«
Sie wollte ihm sagen, dass es kein verdammter Kindertraum war, dass sie eines ihrer Bilder schon verkauft hatte, aber er redete schon weiter: »Ich sitze seit einem halben Jahr an einer Kanone auf unserem Boot und bringe den Jungs bei, wie man damit umgeht. Das
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