Sommer in Maine: Roman (German Edition)
angebrüllt. Was war das denn bitte für ein Geschenk? Der Beweis dafür, dass sie tatsächlich furchtbar aussah, sollte ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubern? Aber dann hatte sie doch gelächelt, denn sie wusste ja, dass Pat es gut meinte. Und das Training mit Raul, das Pat seitdem jährlich zum Muttertag verlängert hatte, war letztendlich doch ein Geschenk des Himmels. Wer weiß, wie sie ohne aussehen würde?
Für Ann Marie war das Schlimmste an den Wechseljahren die Einsicht, dass sie endgültig keine Kinder mehr kriegen konnte. Als sie versuchte, das ihrer Schwester Tricia zu erklären, lachte die nur und sagte: »Ich wusste gar nicht, dass ihr noch auf ein viertes gewartet habt.«
Ann Marie war ja klar, dass es irrational war. Schließlich war sie schon Großmutter. Aber trotzdem: Es war so endgültig.
Seit dem Tag, an dem Daniel Junior geboren wurde, galt ihr erster Gedanke beim Aufwachen den Kindern, und sie waren auch das Letzte, an das sie vor dem Einschlafen dachte. Mutterschaft war der einzige ihr bekannte Beruf, in dem Erfolg bedeutete, dass man nicht mehr gebraucht wurde. Aber wer war sie, wenn nicht die Mutter von Daniel, Patty und Fiona Kelleher? Darüber hatte sie in letzter Zeit viel nachgedacht.
Sie fuhr genau an der Geschwindigkeitsgrenze, denn sie hatte die Polizisten nicht übersehen, die auf dem Randstreifen darauf lauerten, dass irgendein Trottel mit einem auswärtigen Nummernschild hier mit hundertdreißig vorbeikam. Ihre Cousins hatten schon oft dafür gesorgt, dass sie ihre Knöllchen nicht hatte bezahlen müssen, aber zu schnelles Fahren, fand Ann Marie, war etwas anderes. Sie wollte den Kindern auch kein schlechtes Vorbild sein.
Als sie bei der New Hampshire Mautstelle warten musste, wählte sie schnell Daniel Juniors Festnetz an.
»Wie geht’s dir, Schatz?«, fragte sie fröhlich.
»Ganz gut«, sagte er.
»Und, hast du diese Woche schon Bewerbungen losgeschickt?«
»Nein.«
»Naja, ist ja auch erst Dienstag, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Und bei Regina ist alles gut?«
»Ja, alles gut. Wir waren am Sonntag am Nantasket Beach und sind Karussell gefahren.«
»Oh, das klingt aber schön.«
»Regina war zum ersten Mal da. Und danach waren wir zum Hummer Essen bei Castleman’s.«
Oh, das klingt aber teuer , dachte Ann Marie. Aber sie sagte nur: »Schön. Wenn du schon mal da warst, bist du vielleicht auch zu St. Mary zum Gottesdienst gegangen?«
Er lachte: »Ach, Mama.«
»Naja, es ist einfach eine sehr schöne Kirche. Außerdem warst du doch noch nie da, du hättest also drei Wünsche frei gehabt.«
Wer sich wohl ausgedachte hatte, dass jedem, der eine fremde Kirche betrat, drei Wünsche erfüllt würden? Vermutlich irgendeine verzweifelte Mutter, deren Kind auf dem Parkplatz vor der Kirche herumschrie. Bei Ann Maries Kindern hatte der Trick immer gut funktioniert.
»Ich bin auf dem Weg nach Maine«, sagte sie. »Ich mache noch diese Woche die Verkostung im Cliff House und rufe Regina dann gleich an und gebe ihr ein paar Empfehlungen. Wenn ich die Auswahl ein bisschen einschränken kann, spart ihr das bestimmt eine Menge Zeit.«
»Super. Grüß Oma von mir und sag ihr, dass wir uns schon auf Juli freuen.«
»Das mache ich. Wann kommt ihr denn?«
»Wissen wir noch nicht genau.«
Sie lenkte den Mercedes an dem Mauthaus vorbei und gab Gas. Beim Beschleunigen zu telefonieren war gefährlich, und sie konnte nur hoffen, dass keines ihrer Kinder das tat.
»Schatz, ich muss Schluss machen«, sagte sie. »Eine Sache noch. Papa würde sich bestimmt freuen, wenn du diese Woche mit ihm essen gehst. Er ist gewiss ein bisschen einsam.«
»Du, das würde ich ja machen, aber ich bin total abgebrannt.«
Sie dachte an das Hummer-Essen.
»Ihr könnt auch zuhause bleiben. Ich hab deine Lieblingsspeise gemacht.«
»Auflauf?«
»Ganz genau. Und im Kühlschrank ist noch Erdbeertorte von Sonntag. Und jede Menge Wein. Du kannst nach dem Essen gern ein, zwei Flaschen mitnehmen. Und lad doch auch Regina dazu ein. Die Hochzeitszeitschriften, von denen ich ihr erzählt habe, liegen im Büro auf dem Schreibtisch.«
»Okay, ich schau mal vorbei.«
Dann legte sie auf. Der Mann im Auto neben ihr hatte das markante Kinn und das struppige braune Haar von Steve Brewer.
Die nächste Dreiviertelstunde verbrachte sie damit, den E-Mail-Wechsel mit Steve zu analysieren.
Du bist unglaublich , hatte er geschrieben, und: Das müssen wir feiern .
Sie wünschte, er würde alleine nach Maine kommen. Dann
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