Sommer in Maine: Roman (German Edition)
hast du mir nicht gesagt, dass sie länger bleibt?«
»Wieso sollte ich?«, fragte Alice. »Wärst du dann nicht gekommen? Zu meiner Zeit hat man sich darüber gefreut, mit der Familie Zeit am Strand zu verbringen. Damals war einem das nicht lästig.«
»So habe ich es auch nicht gemeint«, sagte Ann Marie.
»Komm mal mit ums Haus«, sagte Alice. »Du musst unbedingt meinen Garten bewundern.«
Am Abend fuhren die drei zum Essen zu Barnacle Billy’s. Während sie in der Schlange warteten, um am Tresen ihre Bestellung aufzugeben, sah Ann Marie sich das trübe Hummeraquarium an. Die armen Wesen konnten einem leid tun: Ihre Unterbringung hier war bestenfalls unerfreulich, und wenn sie endlich rauskamen, ging es schnurstracks in den Kochtopf. Sie selbst hatte unzählige Male lebende Hummer in kochendes Wasser fallen lassen, schnell den Deckel draufgemacht und feige daneben gestanden, während die Tiere im Topf noch ein bisschen herumklapperten und schließlich aufgaben. Manchmal hatte sie Daniel Junior sogar erlaubt, einem der Hummer Messer und Gabel in die mit dicken Gummibändern zusammengeschnürten Scheren zu rammen. Dann setzte er sie auf den Fußboden und ließ sie ins Wohnzimmer wackeln, wo die Mädchen sie vor Vergnügen jauchzend begrüßten. »Heute isst der Hummer euch zum Abendessen«, hatte Daniel Junior dann seinen Schwestern gesagt, und Ann Marie hatte gelacht.
Es war ihr nie grausam erschienen, aber jetzt fand sie den Gedanken plötzlich unerträglich. Sie bestellte Muscheln.
Das Restaurant war voll junger Familien und Händchen haltender Paare. Sie nahmen einen Tisch am Fenster, einen der wenigen noch freien. Im Kamin prasselte ein Feuer und vor dem Fenster tanzten die Fischerboote im Hafen.
Als Maggie auf der Toilette war, sagte Alice zu Ann Marie: »Du bist sauer, ich weiß. Aber bitte lass das doch. Ich kann es nicht ertragen, wenn du mir böse bist.«
»Ich bin nicht sauer«, sagte Ann Marie.
»Natürlich bist du das.«
Ann Marie seufzte: »Bitte glaube mir, Mama: Ich bin nicht sauer. Es ist schon in Ordnung.«
»Es war nicht anständig von mir, es dir nicht zu sagen. Aber du kennst ja Kathleen und ihre Kinder: Als Maggie meinte, dass sie länger als geplant in Maine sein würde, war ich nicht sicher, ob es dabei bleiben würde.«
»Ist es aber.«
»Ja.«
Jetzt wurde Alices Ton schärfer: »Also jetzt hör mir aber mal zu: Ich habe dich nicht gebeten zu kommen. Wenn es dir so viele Umstände macht, dann fahr doch wieder nach Hause.«
Ann Marie fühlte sich wie ein gezüchtigtes Schulkind. Sie hatte, um herzukommen, ihre gesamten Pläne über den Haufen geworfen, und jetzt sollte sie als undankbar dastehen?
»Es macht mir keine Mühe und ich würde gerne bleiben«, sagte sie des lieben Friedens willen. »Es tut mir leid.«
Alice lächelte: »Dann wohnst du bei mir im Neubau. Im vorderen Schlafzimmer. Das hat von allen den schönsten Meerblick.«
»Das wäre schön«, sagte Ann Marie.
Dann kam Maggie zurück, und Alice rief die Kellnerin herbei und bestellte zwei Punsche.
»Dieses Mädchen hier entwickelt sich zu einer Spielverderberin, genau wie ihre Mutter«, sagte Alice und zeigte vorwurfsvoll auf Maggie. »Sie trinkt nicht mehr.«
Maggie hatte noch nie viel getrunken, und das war ja auch nicht erstaunlich. Es gab in jeder irischen Familie ein oder zwei, die sich so vor dem Alkoholismus fürchteten, dass sie ihm gar nicht erst eine Chance geben wollten. In Ann Maries Familie war es ihre Schwester Susan, die seit dem College höchstens mal ein Dünnbier trank.
»Ich achte in letzter Zeit einfach ein bisschen auf meine Gesundheit«, gab Maggie zurück. »Außerdem will ich für den Sommer ein bisschen abnehmen.«
Bei diesen Worten wurde Ann Marie unruhig. Sie wusste, was jetzt kommen würde.
»Gute Idee«, sagte Alice. »Deine Figur ist im Moment wirklich wenig erfreulich. Aber du bist ja noch jung. Die überflüssigen Pfunde wirst du mir nichts, dir nichts los.« Sie machte eine Pause. »Aber dafür sieht dein Haar zur Zeit besonders schön aus.«
»Danke«, sagte Maggie, wandte sich zu Ann Marie und verdrehte die Augen.
Dann wechselte Alice das Thema: »Ann Marie, hast du in den Nachrichten von dieser grässlichen Geschichte gehört? In Dorchester hat eine dieser üblen Banden einen schwarzer Jungen erschossen. Keine zwei Blocks von meinem Elternhaus. Was ist denn nur los mit diesen Schwarzen? Es scheint ja geradezu ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein, sich gegenseitig
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